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    Frauenbilder im Mythos

    Oberseminar: Frauenbilder im Mythos

    WS 2019 | donnerstags | 11:30–13:00 Uhr | Raum 30.91–110

    Beginn: 17. Oktober 2019 | Ende: 6. Febr. 2020

    Man sieht, daß sie eben­bür­tig sind, schließ­lich ist sie auch sei­ne Schwe­ster. — James Bar­ry: Jupi­ter and Juno on Mount Ida (um 1790f.) — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

    Die Rol­len vie­ler Frau­en­fi­gu­ren in den klas­si­schen Mythen zei­gen weit mehr als nur die Sei­te des Opfers (Hele­na), son­dern auch eine Viel­falt weib­li­cher Macht, durch die Stel­lung im Haus als Matro­ne (Hera), durch beson­de­re Fähig­kei­ten wie Ver­nunft (Athe­ne) oder auch Zau­be­rei (Medea), nicht zuletzt aber auch durch Ver­füh­rung (Salo­me). Auch tie­fen­psy­cho­lo­gi­sche Kon­flik­te spie­len hin­ein, wenn Gefühl, Wil­le, Kör­per und Geist eben nicht mit­ein­an­der har­mo­nie­ren (Anti­go­ne) oder wenn der Zwang zur Selbst­ver­leug­nung so groß wird, daß Psy­cho­sen aus­ge­lebt wer­den müs­sen (Dio­ny­sos). Des­wei­te­ren ist die offe­ne Zukunft im Pro­zeß der Selbst­er­mäch­ti­gung des Men­schen ein dau­er­haf­tes Pro­blem (Pan­do­ra).

    Die­se Ver­an­stal­tung dient der Gegen­wart und dar­in der Selbst­re­flek­ti­on vor dem Hin­ter­grund einer huma­ni­sti­schen Bil­dung, deren Reiz dar­in besteht, sich men­tal und emo­tio­nal den ganz anders­ge­ar­te­ten Ver­hält­nis­sen in der Anti­ke aus­set­zen zu kön­nen, von denen uns vie­les bis auf den heu­ti­gen Tag noch immer tief berührt. Wir soll­ten die­se alten Zei­ten nicht men­tal über­win­den wol­len, denn es wür­de bereits genü­gen, ein­fach nur zu ver­ste­hen, was Kon­ven­tio­nen mit Men­schen machen können.

    Bemer­kens­wert ist die in Sze­ne gesetz­te Empa­thie, als wäre das Werk eine Reak­ti­on auf das von Franz Stuck. — Her­mann Haase–Ilsenburg: Fare­well of the Ama­zon (1902). — Quel­le: Foto von Golf in der Wiki­pe­dia. via Wiki­me­dia, Lizenz: Crea­ti­ve Com­mons, CC-BY‑3.0.

    Auch der Mythos um die Ama­zo­nen ist, neue­ren For­schun­gen zufol­ge, höchst inter­es­sant in der Deu­tung des­sen, was da wirk­lich auf dem Spie­le stand. Die Ver­hält­nis­se waren längst nicht mehr so ein­ver­nehm­lich wie vor­her, als es noch sehr weni­ge Men­schen gab und noch nicht die Ambi­ti­on, dar­aus Unter­ta­nen zu machen. — Viel­leicht ist unter sol­chen Bedin­gun­gen sogar die Blut­ra­che nicht so desa­strös, wie sie spä­ter sein wird.

    Da sind Prin­zes­sin­nen wie Ari­ad­ne oder Medea, die ihr Schick­sal auf­bes­sern möch­ten und end­lich her­aus wol­len aus der eige­nen, als bar­ba­risch emp­fun­de­nen Kul­tur. Daher wür­den sie für einen hoch­wohl­ge­bo­re­nen grie­chi­schen Prin­zen mit Aus­sicht auf Königs­wür­den wirk­lich alles tun, bis hin zum Hoch­ver­rat des eige­nen Lan­des, der Göt­ter und der eige­nen Fami­lie, sogar bis hin zum Brudermord.

    Zwar hat auch Ari­ad­ne ›ihrem Hel­den‹ The­seus ganz ent­schei­dend gehol­fen, den Mino­tau­rus im Laby­rinth von Knos­sos zu töten und wie­der her­aus­zu­fin­den, aber The­seus setzt die Schla­fen­de, also die ihm blind­lings Ver­trau­en­de ganz ein­fach auf der Insel Naxos aus. — Ihr wird aber ein atem­be­rau­bend über­ra­schend schö­nes Schick­sal zu Teil, der Wein­gott Dio­ny­sos ver­liebt sich in die schla­fen­de Schö­ne. Ohne­hin spielt die­ser Gott eine sehr wich­ti­ge Rol­le im Zuge der Frau­en­eman­zi­pa­ti­on, weil er end­lich Mög­lich­kei­ten schafft, daß gera­de auch Frau­en ›unge­zü­gelt‹ sein kön­nen und auch sein dürfen.

    Franz Stuck: Ama­zo­ne zu Pfer­de (1897). Lower Sax­o­ny Sta­te Muse­um. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

    Da sind die Opfer gött­li­cher Avan­cen wie Daph­ne, bei der die uner­wi­der­te, ja auf­dring­li­che Lie­be durch­ge­spielt wird, oder etwa Kas­san­dra, die allein für die Aus­sicht auf eine ein­zi­ge Lie­bes­nacht schon mal im vor­hin­ein von Apol­lon mit der Seher­ga­be belohnt wor­den ist, die sich aber stand­haft ver­wei­gert, so daß auch hier wie­der­um der Gott nicht zurück­neh­men kann, was nun ein­mal ver­lie­hen wor­den ist. Dafür aber konn­te er sie sehr wohl noch emp­find­lich tref­fen, die Seher­ga­be soll­te ihr erhal­ten blei­ben, allein, es wür­de ihr nur nie­mand mehr glauben.

    Es sind vie­le, wirk­lich sehr ein­drucks­vol­le Bege­ben­hei­ten, einer­seits Stan­dard­si­tua­tio­nen, wie die Los­lö­sung vom Eltern­haus, die Ent­füh­rung der Braut, ero­ti­sche Aben­teu­er, unzwei­deu­ti­ge Ange­bo­te, aber auch ihre gewalt­sa­me Über­win­dung, wonach sie dann auf die­se Wei­se zur Frau ›gemacht‹ wor­den ist, wie etwa Hera durch Zeus, der sich in Gestalt eines bib­bern­den Kuckucks in die Nähe ihres Scho­ßes begibt.

    John Wil­liam Water­hou­se: Jason and Medea (1907). — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

    Dann ist es — so will es die­se Geschlechter–Dramaturgie vor­ma­li­ger Zei­ten, um die Frau gesche­hen. Sie hat nicht auf­ge­paßt, ist hin­ters Licht geführt wor­den. Es genügt, der Gelieb­ten die Ehre zu neh­men, dann wird sie nolens volens ihren Über­wäl­ti­ger hei­ra­ten müs­sen. — Mög­lich ist alle­dings auch, daß hier sehr alte Erfah­run­gen reka­pi­tu­liert wer­den, der Frau­en­raub auch unter vor­zi­vi­li­sier­ten Völ­kern. Der Hin­ter­grund dürf­te der sein, daß es eine immens hohe Müt­ter­sterb­lich­keit gege­ben haben dürfte.

    Wir sind inzwi­schen mei­len­weit ent­fernt von die­sen Ver­hält­nis­sen, und nur noch weni­ge wis­sen, was eigent­lich im Ritus der ent­führ­ten Braut noch so alles mit­schwingt. Aber vie­les von alle­dem spukt noch immer in den Köp­fen und Kör­pern her­um. Daher ist es so inter­es­sant, die­se eben­so schil­lern­den wie arche­ty­pi­schen Kon­stel­la­tio­nen ganz bewußt neu auszudeuten.

    Alles ist Kon­ven­ti­on, ganz beson­ders kon­ven­tio­nell sind auch die gegen­wär­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, in denen vie­le Akti­vi­stIn­nen noch immer davon aus­ge­hen, daß Frau­en stets Opfer sind, die Opfer von Män­nern, daß Män­ner immer Täter sind und daß daher den Frau­en immer­zu Schutz gewährt wer­den müs­se. Genau das aber bewirkt nichts anders als die Auf­recht­erhal­tung über­kom­me­ner Ver­hält­nis­se, die längst nicht mehr dem Sta­te of the art im Dis­kurs über Gen­der gerecht werden.

    Aber oft hin­ter­geht gera­de die­ser Dis­kurs sei­ne eige­nen Anfor­de­run­gen. Daher ist es so inter­es­sant, vor dem Hin­ter­grund unse­rer eige­nen Gegen­wart die dra­ma­ti­schen Situa­tio­nen, in die Frau­en im Mythos gera­ten, als sol­che zu deu­ten. — Wir spie­geln uns immer­zu selbst und dar­auf kommt es an. Daher geht es auch nicht ums Urtei­len, schon gar nicht ums Ver­ur­tei­len, son­dern ein­fach nur und immer wie­der ums Verstehen.

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    Der Mensch als Maß?

    Heinz–Ulrich Nen­nen: Der Mensch als Maß aller Din­ge? Über Prot­agoras, Pro­me­theus und die Büch­se der Pan­do­ra (Zeit­Gei­ster 1); tre­di­ti­on Ham­burg 2018. 232 S. – Paper­back 16,99 €, ISBN: 978–3‑7439–0090‑5. Hard­co­ver 26,99 € ISBN: 978–3‑7439–0091‑2. Erschei­nungs­da­tum: 11.12.2018.

    Pan­do­ra ist das Abschieds­ge­schenk der abdan­ken­den olym­pi­schen Göt­ter, danach kommt nur noch der Mensch. Es soll­te kei­ne wei­te­re Dyna­stie von Göt­tern mehr geben. — Wir sind wer­den­de Göt­ter in einer Welt, die wir selbst erschaf­fen haben, für die wir auch ganz allein ver­ant­wort­lich sind. 

    Mit sämt­li­chen gött­li­chen Gaben bedacht, ist Pan­do­ra die Alle­go­rie aller Ver­lockun­gen, wie sie nur zivi­li­sier­te Wel­ten bie­ten. Zugleich bringt sie auch alle damit ver­bun­de­nen Übel in die Welt. Um die Fra­ge nach dem War­um ran­ken sich seit­her vie­le Mei­ster­er­zäh­lun­gen. Grund genug, sie erneut zu befra­gen, um ›unse­re‹ Ant­wor­ten zu finden.

    Also wie gehen wir um mit unse­rer Sou­ve­rä­ni­tät in Fra­gen von Moral, Gefühl und Selbst­be­stim­mung? Der Weg führt vom ersten Gewis­sen bis zur mul­ti­plen Iden­ti­tät, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Gebor­gen­heit. — Inzwi­schen tra­gen wir die Göt­ter in uns.

    Die Rei­he Zeit­Gei­ster ist der Psy­cho­ge­ne­se gewid­met, denn Ori­en­tie­rungs­wis­sen ist von zuneh­men­der Bedeu­tung. Es geht um die neu­en Per­spek­ti­ven einer Phi­lo­so­phi­schen Psy­cho­lo­gie, die in den Mei­ster­er­zäh­lun­gen ein uraltes Ori­en­tie­rungs­wis­sen fin­det, das über­ra­schend aktu­ell ist.

    Wenn der berühmt–berüchtigte Sophist Prot­agoras von Sokra­tes um Erläu­te­rung gebe­ten wird, was man denn nun gegen teu­res Geld bei ihm erler­nen kön­ne, dann zeigt sich ein tief­grei­fen­der Wan­del. — Nicht ein­mal mehr die Ein­füh­rung ins Erwach­se­nen­le­ben gehorcht noch der Tra­di­ti­on der Jäger. Die Kul­tur in den Städ­ten setzt eige­ne Maß­stä­be und bespie­gelt sich dabei selbst. Frag­lo­se Maß­stä­be sind nicht mehr vor­han­den: Der Mensch ist das Maß aller Dinge!

    Prot­agoras erläu­tert anhand des Mythos von Pro­me­theus, es mang­le nicht an der nöti­gen Tech­nik, Städ­te zu errich­ten. Allein sie zu hal­ten, sei schier unmög­lich gewe­sen. — In der Tat muß­te die drin­gend gebo­te­ne Kunst der Poli­tik eigens von Her­mes im Auf­trag­des Zeus nach­ge­reicht wer­den. Und er, der Sophist, ver­mitt­le genau­die­se vakan­ten Kompetenzen.

    Poli­tik ist die Kunst, stän­dig gegen­zu­steu­ern, wenn Gesell­schaf­ten wie­der ein­mal aus irgend­ei­nem Gleich­ge­wicht gera­ten. Die eigent­li­che ›Wild­nis‹, in der es zu bestehen gilt, liegt daher in den Städ­ten. — Seit­her muß also ›stu­diert‹ wer­den. Dann ist es durch­aus mög­lich, Kar­rie­re zu machen, auch ohne von Adel zu sein.
    Pan­do­ra ist das Abschieds­ge­schenk der abdan­ken­den olym­pi­schen Göt­ter, danach kommt nur noch der Mensch. Mit sämt­li­chen gött­li­chen­Ga­ben bedacht, ist sie die Alle­go­rie aller Ver­lockun­gen, wie sie nurz­i­vi­li­sier­te Wel­ten bie­ten. Zugleich bringt sie auch alle Übel mit indie Welt, die vor­her nicht waren. — Um die Fra­ge nach dem War­um ran­ken sich seit­her vie­le Mei­ster­er­zäh­lun­gen. Grund genug, sie erneu­tzu befra­gen, um ›unse­re‹ Ant­wor­ten zu finden.

    Phi­lo­so­phie kommt auf, wo Göt­ter schlecht gedacht wer­den. So ent­steht all­mäh­lich Sou­ve­rä­ni­tät in Fra­gen von Moral, Gefühl und Selbst. Der Weg führt vom ersten Gewis­sen bis zur mul­ti­plen Iden­ti­tät, immer auf der Suche nach Sinn, Glück und Geborgenheit.

    Die Rei­he Zeit­Gei­ster ist der bis­her kaum bedach­ten Psy­cho­ge­ne­se gewid­met, dabei ist Ori­en­tie­rungs­wis­sen von zuneh­men­der Bedeu­tung. Es geht um die neu­en Per­spek­ti­ven einer Phi­lo­so­phi­schen Psy­cho­lo­gie, die in Zwei­fels­fäl­len immer wie­der auf die Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung durch Phi­lo­so­phi­sche Anthro­po­lo­gie zurück­grei­fen kann.

    Alle Bän­de der Rei­he Zeit­Gei­ster erschei­nen bei tre­di­ti­on – wer­den aber auch hier suk­zes­si­ve zum Down­loads freigegeben.