Philosophischer Salon: Die sieben Todsünden. Zur Aktualität eines alten Konzepts.

Philosophie und Kunst

Die­ser Phi­lo­so­phi­sche Salon unter dem Titel „Schat­ten­blick und Licht­mo­men­te“, fand am 26. August 2023, in der Vil­la Kamp­schul­te in Essen statt.

Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen erläu­ter­te dar­in die über­ra­schen­de Aktua­li­tät des alten Kon­zepts der Tod­sün­den, das weit mehr ist als eine rei­ne Glau­bens­sa­che. Dahin­ter ste­hen viel­mehr ganz ent­schei­den­de kol­lek­ti­ve Erfah­run­gen aus der gesam­ten Menschheitsgeschichte. 

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Phi­lo­so­phi­scher Salon: Die sie­ben Tod­sün­den. Zur Aktua­li­tät eines alten Kon­zepts. – Video via Youtube

Ein Konzept kollektiver Erfahrungen 

Unse­re Vor­fah­ren haben vie­le die­ser Feh­ler began­gen und die Mythen berich­ten uns dar­über, wie es sich zuge­tra­gen hat. Man muß nur zu lesen und zu deu­ten ver­ste­hen, was sie uns mit­zu­tei­len haben. – Die Kir­che hat das Gan­ze nur auf­ge­grif­fen und für ihre Zwecke umgewidmet. 

Greift man die­ses Kon­zept nun phi­lo­so­phisch auf, so läßt es sich aktua­li­sie­ren und auf die Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit in der Gegen­wart über­tra­gen. – Das Fazit dürf­te aller­dings über­ra­schen: Der Kern aller Tod­sün­den ist immer der­sel­be: Ein­zel­ne stel­len sich mit ihren Über­zeu­gun­gen und Inter­es­sen über alles und genau das wird der Kri­tik unterzogen. 

Es geht immer­zu um “Hybris”, um die Anma­ßung gött­li­cher Wür­den und Kom­pe­ten­zen, wie ins­be­son­de­re All­wis­sen­heit und All­macht. – Die­ses Fazit wird in wei­te­ren Ver­an­stal­tun­gen und in einem dem­nächst erschei­nen­den Buch näher erläutert. 

Es soll vor allem auch im Rah­men wei­te­rer Phi­lo­so­phi­scher Salons, ins­be­son­de­re in Kir­chen debat­tiert werden.

Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen ist Hoch­schul­leh­rer in Karls­ru­he und betreibt eine Phi­lo­so­phi­sche Pra­xis in Münster. 

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Die Hände erschaffen das Gesicht

Der Satz fällt in einer Lebens­beich­te, die alles ande­re als gut ausgeht:

Von einem bestimm­ten Alter an ist jeder Mensch für sein Gesicht ver­ant­wort­lich. (Albert Camus: Der Fall. Ham­burg 1968. S. 18.)

Wie einer der mythi­schen Gerichts­göt­ter, so ver­steht sich auch der fran­zö­si­sche Phi­lo­soph Albert Camus auf Fra­gen, wie sie in Alp­träu­men schon immer befürch­tet wur­den: Schluß­end­lich kommt doch alles an Licht.

Ent­schei­dend ist der Cha­rak­ter unse­rer Hand­lun­gen, wie sie aus der Per­spek­ti­ve des eige­nen Gewis­sens beob­ach­tet wor­den sind. Und das, was man bis­lang glaub­te, sich selbst und ande­ren vor­ma­chen zu dür­fen, zählt plötz­lich nicht mehr.

Wer hät­te gedacht, daß unse­re Hän­de weit mehr sind, als nur aus­füh­ren­de Orga­ne. Sie han­deln nicht nur, son­dern ver­han­deln mit­ein­an­der. Eine ver­sucht die ande­re zu bestär­ken oder auch von etwas abzu­hal­ten. Mit­un­ter ist der einen auch pein­lich, was die ande­re zu tun sich ein­fach nicht ver­knei­fen kann.

Eine ›Sün­de‹ ist eine Hand­lung, von der wir bereits wis­sen, daß eigent­lich ›nicht geht‹ was wir zu tun beab­sich­ti­gen. Eine ›Tod­sün­de‹ geht noch dar­über hin­aus. Sie ist der Aus­druck einer Hal­tung, die sich selbst Aus­nah­men erteilt und sich damit über alles erhebt. — Gera­de­zu alar­mie­rend wirkt der Befund, daß sich da jemand aus­klinkt, aus dem gro­ßen Ganzen.

Alle unse­re Hand­lun­gen ent­ste­hen im Zuge von Abwä­gun­gen, die uns von einer Dia­lek­tik ermög­licht wer­den, so daß wir immer wie­der neu abwä­gen, beur­tei­len und ent­schei­den kön­nen, für die eine oder auch für die ande­re Hand.

Die sie­ben Tod­sün­den: Mehr als eine Fra­ge des Glaubens

Nach heu­ti­gem Ver­ständ­nis geht es um Reli­gi­on. Aber dar­über hin­aus geht es um Psy­cho­lo­gie und vor allem um den Bestand von Gemein­schaf­ten und gan­zen Gesellschaften.

1. Hoch­mut, Stolz und Eitel­keit (super­bia)
2. Hab­gier, Geiz und Hab­sucht (ava­ritia)
3. Wol­lust, Begeh­ren und Unkeusch­heit (luxu­ria)
4. Zorn, Rach­sucht und Wut (ira)
5. Völ­le­rei, Unmä­ßig­keit, Gefrä­ßig­keit (gula)
6. Neid, Eifer­sucht und Miß­gunst (invi­dia)
7. Träg­heit, Faul­heit, Über­druß (ace­dia)

Das Phi­lo­so­phie­ren dar­über, ob das Kon­zept der Tod­sün­den auch heu­te noch von Bedeu­tung sein könn­te, läßt sich eröff­nen mit­hil­fe einer Unter­schei­dung, die schon dem reli­giö­sen Kon­zept zugrun­de liegt. — Dem­zu­fol­ge gibt es ›Sün­den‹, die ›nur‹ das indi­vi­du­el­le See­len­heil gefähr­den und sol­che, die dar­über hin­aus für gan­ze Gemein­schaf­ten exi­stenz­be­dro­hend werden.

Auf die Fra­ge, was denn das Töd­li­che an den Tod­sün­den sein soll, läßt sich anfüh­ren, daß sie weit mehr Unheil anrich­ten. — Aber das alles bedarf zwei­fels­oh­ne der wei­te­ren Erörterung.
Phi­lo­so­phisch ist es gebo­ten, reli­giö­se Dog­men unmit­tel­bar in Psy­cho­lo­gie zu über­füh­ren, so daß sie auch ohne Gehor­sam im Glau­ben zwang­los nach­voll­zieh­bar wer­den. — Nur dann läßt sich das System der Tod­sün­den bei­be­hal­ten, andern­falls wäre es nur noch Glaubensgeschichte.

Kosmische Harmonie

Hin­ter dem Kon­zept der Tod­sün­den ste­hen die Leit­bil­der einer alles über­grei­fen­den kos­mi­schen Ord­nung, die von den Göt­tern garan­tiert wird. Das Gleich­ge­wicht wird jedoch immer wie­der gestört, vor allem durch die Fre­vel­ta­ten von Ein­zel­nen. — In den Mythen wird dar­über dezi­diert berichtet.

Dem­zu­fol­ge lie­gen die Ursa­chen für mas­si­ve Stö­run­gen in der kos­mi­schen Har­mo­nie in Unge­heu­er­lich­kei­ten, die wil­lent­lich und wider bes­se­res Wis­sen ver­übt wor­den sind. — Was reli­gi­ös erscheint, hat jedoch mani­fe­ste welt­li­che Grün­de. Es geht um die Muster einer Muster­gül­tig­keit, deren Ver­bind­lich­keit angeb­lich vom Him­mel über­wacht wird.

Phi­lo­so­phisch betrach­tet, han­delt es sich um Pro­jek­tio­nen zur Garan­tie der sozi­al­psy­cho­lo­gi­schen Grund­la­gen für die Iden­ti­tät gan­zer Kul­tu­ren und Lebens­wel­ten. — Deren Zukunft ist schließ­lich dar­auf ange­wie­sen, daß gewis­se Gren­zen gewahrt, gewür­digt und auch respek­tiert werden.

Anson­sten gera­ten gan­ze Gesell­schaf­ten in kata­stro­pha­le Pro­zes­se des unauf­halt­sa­men Nie­der­gangs. Und sie kön­nen sich nicht wie­der sta­bi­li­sie­ren, solan­ge die ›Him­mels­ord­nung‹ gestört und nicht durch Süh­ne wie­der aus­ge­gli­chen wor­den ist. — Aus­lö­ser sind spek­ta­ku­lä­re und unge­sühn­te Fre­vel­ta­ten wie Tem­pel­raub, Mord, Inzest, Ver­ge­wal­ti­gung, Schän­dung und vor allem Hybris, wenn sich Men­schen gött­li­che Wür­de anmaßen.

In den Augen der Phi­lo­so­phie, ist das durch Kapi­tal­ver­bre­chen gestör­te ›Kos­mi­sche Gleich­ge­wicht‹ eines der Kul­tur. — Etwas Unge­heu­res ist gesche­hen, was nie hät­te sein dürfen.

Wenn aber der­art Unvor­stell­ba­res offen­bar doch mög­lich ist, dann ist das Ver­trau­en in die Lebens­welt ele­men­tar erschüt­tert. Damit steht das wei­te­re Zusam­men­le­ben, die Zukunft als sol­che und sogar der Fort­be­stand der gan­zen Kul­tur auf dem Spiel.

Dar­über kommt es zur Kri­se, denn die ›hei­li­ge Ord­nung‹ ist offen­bar nicht ganz so sicher wie gedacht. Man wird also die aus dem Lot gera­te­ne Ver­hält­nis­se wie­der zum Aus­gleich brin­gen wol­len. Aber das Ver­trau­en in die Legi­ti­mi­tät der kul­tu­rel­len Ord­nung läßt sich nur mit gro­ßer Mühe wie­der her­stel­len. — Eine Apo­ka­ta­sta­sis pan­thon, eben die ›Wie­der­her­stel­lung des Him­mels‹, ist von außer­or­dent­li­cher Bedeutung.

Danach ist alles wie­der so, als wäre nichts gesche­hen, denn die Kathar­sis hebt näm­lich den Fre­vel mit­samt sei­ner Fol­gen wie­der auf. Nur noch die Mythen berich­ten davon und bewah­ren die Bege­ben­heit als war­nen­des Bei­spiel für alle Zei­ten. — Es ist wie bei einer Wun­de am eige­nen Kör­per, von der man im nach­hin­ein nicht ein­mal mehr genau erin­nern kann, wo sie eigent­lich war.

Essen, Villa Kampschulte