Diana – Psyche und Wildnis

Jules-Joseph-Lefebvre-Diana-Chasseresse
Jules–Joseph Lefeb­v­re: Dia­na. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Die Bio­gra­phie der Göt­ter, also ihre Theo­gra­phie ist oft hilf­reich, um her­aus­zu­brin­gen, was sich hin­ter der Alle­go­rie eines Got­tes oder einer Göt­tin ver­birgt. Alle die­se Figu­ren sind unse­re Pro­jek­tio­nen, daher ist es inter­es­sant, dem nach­zu­ge­hen, was denn da pro­ji­ziert und idea­li­siert wor­den ist. Dem­entspre­chend darf stets mit höchst inter­es­san­ten Kor­re­spon­den­zen zwi­schen der Men­schen­welt und dem Göt­ter­him­mel gerech­net werden.

Immer­hin geht es um fun­da­men­ta­le Erfah­run­gen und Selbst­er­fah­run­gen, die mit­hil­fe von Göt­ter­fi­gu­ren in Sze­ne gesetzt wer­den: So steht die grie­chi­sche Arte­mis und die mehr oder min­der iden­ti­sche römi­sche Dia­na für einen ganz bestimm­ten Kon­text, der tief in die Ver­gan­gen­heit der Men­schen­ge­schich­te zurückreicht.

Dia­na ist auf den Bil­dern beim Bade unter den vie­len nack­ten Nym­phen sicher an ihrem Dia­dem zu erken­nen, das eine Mond­si­chel trägt, ein wahr­haft uraltes Sym­bol. Damit läßt sie sich einer sehr viel älte­ren Epo­che der Mensch­heits­ge­schich­te zuord­nen, was aller­dings kaum ver­wun­der­lich ist. Als Jagd­göt­tin steht sie alle­go­risch für genau jene Lebens­wei­se ein, wie sie zuvor in der gesam­ten Geschich­te der Mensch­heit vor­herr­schend war. Erst vor etwa 45.000 Jah­ren kamen die ersten Hir­ten­no­ma­den auf und erst seit rund 12.000 Jah­ren kam es zum Pro­zeß der Zivi­li­sa­ti­on. — Wenn daher die Dia­na auf­tritt, so ver­kör­pert sie einen ganz bestimm­ten Aspekt in der Sub­si­sten­z­wei­se von Samm­lern und Jägern, und dabei kam das Jagen den Män­nern und das Sam­meln den Frau­en zu.

Die Göt­tin steht für die­sen eigen­tüm­li­chen Flow, für die inten­si­ve Erfah­rung von Ein­sam­keit in den end­lo­sen Wäl­dern, Wie­sen und Fel­dern, auf der Jagd aber auch beim Sam­meln. Sie ist die Göt­tin des ›Drau­ßen‹ und bewahr­te ins­be­son­de­re die Frau­en vor den Gefah­ren, die damit ein­her­ge­hen, sich weit weg zu wagen von allem, was noch in der Nähe der Gemein­schaft liegt. Da sind nicht nur natür­li­che Gefah­ren, son­dern auch die, even­tu­ell ande­ren Jägern zu begeg­nen, die viel­leicht auf Frau­en­raub aus sind. Dar­über­hin­aus ist es immer auch ein see­li­sches Wag­nis, sich tief in die Wild­nis vor­zu­wa­gen, weil man sich eben zugleich auch auf das eige­ne Inne­re ein­läßt. Nicht von unge­fähr ist in der Welt­an­schau­ung der Wild­beu­ter alles beseelt und vol­ler Gei­ster und Dämonen.

Dia­na ist eine Schutz­göt­tin, die denen gan­ze beson­de­ren Bei­stand gewährt, die sich sehr in die Wild­nis vor­wa­gen. Denn sie demon­striert das uner­müd­li­che Jagen und sie bewahrt ihre Iden­ti­tät, so daß sich die, die sich auf die Ein­sam­keit in den Wäl­dern und auf alle erdenk­li­chen Erfah­run­gen und Gefah­ren ein­lie­ßen, sich gebor­gen füh­len konn­ten. Die Göt­tin lebt vor, was es bedeu­tet, auf Jagd oder zum Sam­meln in die Wäl­der zu gehen, weit­ab vom Lager, viel­leicht in klei­nen Grup­pen, auf jeden Fall aber auf sich allein gestellt und nicht son­der­lich wehr­haft. — Erstaun­li­cher­wei­se wird die gött­li­che Alle­go­rie für das Jagen und Sam­meln aus­ge­rech­net von einer jung­fräu­li­chen Göt­tin ver­kör­pert. Das muß zu den­ken geben, denn gera­de vom Jagen wür­de man doch anneh­men wol­len, da es doch eine emi­nent ›männ­li­che‹ Tätig­keit ist, daß infol­ge­des­sen auch ein männ­li­cher Gott dafür ein­ste­hen müßte.

Aller­dings hat es mit den Umstän­den beim Jagen und Sam­meln eine ganz eige­ne Bewandt­nis. Nicht sel­ten herrscht Ent­halt­sam­keit im Lager, wäh­rend die Jäger weit­ab auf Beu­te­fang sind. Und nicht anders ergeht es den Samm­le­rin­nen, wenn sie in klei­nen Grup­pen unter­wegs sind, stän­dig ver­folgt von Gefüh­len wie Angst, Bedro­hung und Hor­ror. — Sich über­haupt auf sol­che Wag­nis­se ein­zu­las­sen, dafür steht die­se Göt­tin, denn sie demon­striert, wie es gemacht wird.

Die Auf­merk­sam­keit dürf­te nicht sel­ten hoch ange­spannt gewe­sen sein, etwa anhand von Geräu­schen die Nähe von Raub­tie­ren früh­zei­tig zu bemer­ken. Aber nicht nur äußer­li­che, son­dern auch psy­chi­sche Gefah­ren sind in sol­chen Situa­tio­nen zu bewäl­ti­gen, die sehr viel Dis­zi­plin, Selbst­er­fah­rung und Wage­mut erfor­dern. — Vor allem für die Frau­en dürf­te noch ent­schei­den­der gewe­sen sein, daß sie ernst­haft befürch­ten muß­ten, weit­ab vom Lager even­tu­ell von frem­den Jägern auf­ge­spürt, geraubt und ent­führt zu werden.

So ergibt sich dann der Cha­rak­ter die­ser Göt­tin. Sie muß so sein wie sie ist, stän­dig auf der Jagd, auf gutem Fuße mit allen Natur­gei­stern wie den Nym­phen, aber völ­lig bei sich und nicht im min­de­sten an Lie­bes­aben­teu­ern oder gar Sex inter­es­siert. — Dage­gen gilt Dia­na rein äußer­lich als äußerst attrak­ti­ve, jugend­li­che, unge­mein umtrie­bi­ge aber auch abso­lut unnah­ba­re Göt­tin. Alle wis­sen, daß sie sich für Män­ner wirk­lich nicht inter­es­siert. Aber immer wie­der gibt es alle erdenk­li­chen Nach­stel­lun­gen, denen sie sich syste­ma­tisch und stets erfolg­reich ent­zieht, nicht sel­ten unter Ein­satz von Mit­teln, die der eige­nen Weib­lich­keit eine Tar­nung ver­pas­sen, die augen­schein­lich ist. Sie nimmt auch schon ein­mal die Gestalt eines Hirschs an, um Nach­stel­lun­gen zu ent­ge­hen, so daß sich ihre Ver­fol­ger gegen­sei­tig erschie­ßen. Ihre Selbst­tar­nung geht so weit, daß sie ihren weib­li­chen Rei­ze voll­kom­men negiert:

Als ihr Alpheus einst zu Lei­be gieng, so beschmie­re­te sie sich mit
den übri­gen Nym­phen das Gesicht der­ge­stalt mit Kothe, daß er sie
unter dem Hau­fen nicht ken­nen konn­te. (Ben­ja­min Hederich:

Gründ­li­ches mytho­lo­gi­sches Lexi­con. Leip­zig 1770. S. 909.)

Die Göt­ter im Olymp seuf­zen nicht sel­ten, wenn sie sie über­haupt zu Gesicht bekom­men, weil sie unent­wegt in den Wäl­dern umher­streift, wäh­rend sie sich statt­des­sen lie­ber wün­schen wür­den, daß sie doch nicht immer­zu jagen möge, son­dern sich den ›schö­ne­ren Din­gen‹ des Lebens end­lich auch ein­mal mehr wid­men soll­te. — Dia­na steht in kras­sem Wider­spruch zur Zivi­li­sa­ti­on, sie ist nicht von unge­fähr andau­ernd in der Gesell­schaft von Nym­phen. Dem Pan müß­te sie eigent­lich sehr zuge­tan sein, aber der Gott der Wild­nis ist sterb­lich, weil er im Zuge der Zivi­li­sa­ti­on sei­ne Macht ver­liert, seit es auf die­sem Glo­bus gar kei­ne Wild­nis mehr gibt.