• Anthropologie,  Diskurs,  Emanzipation,  Ethik,  Feminismus,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Leib,  Lüge,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Philosophie,  Psyche,  Schönheit,  Schuld,  Seele,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wahrheit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Alice Schwarzer zum achtzigsten Geburtstag

    Eine schon lang fällige Glosse

    Für Fried­rich Kaulbach

    Als Mann, nun­mehr aber auch Phi­lo­soph, möch­te ich end­lich die Gele­gen­heit ergrei­fen, die­ser Dame den Spie­gel vor­zu­hal­ten. Sie hat näm­lich ein­fach nur ihr Ding gemacht.

    Es ist mir rich­tig schlecht ergan­gen in der wich­tig­sten Zeit mei­nes Lebens, als noch alles offen war und man sich oft nicht zu erweh­ren wuß­te, gegen alle die­se Anwür­fe. Sie hat über Jahr­zehn­te die Dis­kurs­kon­trol­le an sich geris­sen und viel zu vie­le folg­ten ihr blind.

    Wil­liam Adol­phe Bou­gue­reau: Ore­stes wird von Furi­en gehetzt, 1862.

    Die­ser Geschlech­ter­kampf wur­de dra­ma­tisch und vor allem ago­nal insze­niert. Nein, es muß­te nicht end­lich ein­mal gesagt wer­den, was zu sagen war. Das wäre ohne­hin gekom­men, ein­fach weil es nach dem Krieg auf der Agen­da stand.

    Dabei hät­te ich so gern mit den Frau­en gemein­sa­me Sache gemacht. — Noch heu­te erin­nern mich die Schil­der vor den Flei­sche­rei­en mit den klei­nen Hun­den, die lei­der nicht hin­ein­dür­fen, an die dama­li­ge Gepflo­gen­heit, Män­ner aus­zu­gren­zen, wo Frau­en ihre Weib­lich­keit wie eine Mon­stranz vor sich hertrugen.

    Der Schwarzer–Feminismus ist ein Revan­chis­mus, der Män­ner zu Tätern gemacht hat, ein­fach nur, weil uns ein Stück­chen am Y–Chromosom fehlt. Man kann das als Dege­ne­ra­ti­on deu­ten, man kann aber auch zu bemer­kens­wer­ten Spe­ku­la­tio­nen grei­fen dar­über, ob “die Natur” nicht womög­lich tat­säch­lich die Frau­en auf dem Schirm hat, wenn es um den weib­li­chen Orgas­mus geht.

    Das ist eine inter­es­san­te Spe­ku­la­ti­on, die der idea­li­sti­sche Phi­lo­soph Fried­rich Wil­helm Joseph Schel­ling in die Welt gesetzt hat, eine etwas wun­der­li­che Spe­ku­la­ti­on, die aber natur­ge­schicht­lich gar nicht ganz so abwe­gig erscheint. Wenn wir den Anfang des Lebens im Tüm­pel betrach­ten, dann kle­ben die Weib­chen ihre Eier an einen Strauch und die Männ­chen kämp­fen um die Gele­gen­heit, ihren Samen dar­über zu sprit­zen. — Da fragt man sich schon, wo und wie denn die Lust her­kom­men soll, beim anony­men Sex.

    Dann wur­den die Ver­hält­nis­se in die­sem Ur–Tümpel nach innen ver­legt, als die Gebär­mut­ter ent­wickelt wur­de. Und die Männ­chen beka­men einen Penis, um mög­lichst nahe her­an­zu­kom­men an die Eizel­le, die den Sper­mi­en durch einen Mai­glöck­chen­duft den rich­ti­gen Weg weist. — Dem­nach sind Frau­en ein­fach näher dran, denn das Maxi­mum der Lust­erfah­rung fin­det in ihrem eige­nen Inne­ren statt und Män­ner sind dabei eher außen vor. Das wie­der­um läßt an den blin­den Seher The­re­si­as den­ken, der 9 Mona­te als Frau gelebt hat, um zu bekun­den, die Frau habe das 9–fache der Lust im Ver­hält­nis zum Mann.

    Auch das läßt sich nach­voll­zie­hen. Frau­en brau­chen eben die stär­ke­re Moti­va­ti­on, weil sie auch mehr ris­kie­ren im Ver­hält­nis zum Mann, näm­lich Frei­heit, Gesund­heit, Leben und auch die sozia­le Stel­lung. — Und in der Tat wur­de die “Schwä­che” von Frau­en als Müt­ter, die ein Klein­kind zu ver­sor­gen haben, immer wie­der von Gesell­schaf­ten scham­los ausgenutzt.

    Aber bei alle­dem hat die Schwarzer–Welt einen ganz ein­fa­chen Schwarz–Weiß–Code. Män­ner sind dem­zu­fol­ge in Wirk­lich­keit, als was Frau­en schon immer gese­hen wur­den: min­der­wer­tig. Und seit­her gel­ten Män­ner als brand­ge­fähr­lich. — Wäh­rend Frau­en ihr Schick­sal zum Opfer­sein kaum abweh­ren kön­nen, wird das Mann–Sein selt­sam wider­sin­nig dargestellt.

    “Der” Mann hat halt die fal­sche Natur und kann des­we­gen nicht ein­mal sicher sein vor sich selbst, denn das Trieb– und Täter­haf­te ist angeb­lich bio­lo­gisch ganz tief in ihm ange­legt. — Empa­thie wird exklu­siv nur Frau­en zuge­schrie­ben. Sen­si­bi­li­tät steht im Schwarzer–Feminismus den Män­ner ein­fach nicht zu, weil sie nichts wei­ter sind als ent­ar­te­te Frauen.

    Ich bin sei­ner­zeit nicht in Män­ner­grup­pen gegan­gen, obwohl ich ver­ste­hen kann, daß es eini­ge getan haben. Ich habe mich auch nicht als Emanzipations–Couch ange­dient, um dann Sex zu erbet­teln. Auch bin ich nicht zum Frauen–Versteher oder zum Sof­tie gewor­den. Mir war das alles zu wür­de­los, also habe ich mei­ne Männ­lich­keit lie­ben gelernt. — Wie heißt doch der Werbe–Spruch einer ein­schlä­gi­gen Indu­strie: Beton, es kommt dar­auf an, was man damit macht!

    Aber die Trau­ma­ti­sie­run­gen waren wohl plat­ziert. Ich konn­te Mit–Männer beob­ach­ten, die des nachts hin­ter einer Frau her­lie­fen, um ihr zu bekun­den, daß man ihr wirk­lich nichts wür­de antun wol­len. — Und dann die­se unsäg­li­chen Bemer­kun­gen: Sag­te doch eine die­ser so schreck­lich ober­fläch­lich eman­zi­pier­ten Frau­en zur ande­ren, als ich ihnen beim Ein­tritt zu einer Alumni–Feier im Overberg–Kolleg den Vor­tritt ließ und die Tür auf­hielt: Also das soll­ten man als Frau immer mitnehmen…

    Ich habe bei­zei­ten das Gedan­ken­le­sen ent­wickelt und kann mühe­los in sol­chen Situa­tio­nen den unaus­ge­spro­che­nen Satz wei­ter fort­füh­ren, bis hin zum imper­ti­nen­ten Rest: Anson­sten müs­se frau die Män­ner klein machen und auch so hal­ten. — Das Gan­ze war ja so sicher, weil es die Rache­göt­tin Ali­ce so und nicht anders ver­ord­net hat­te in ihrer gar nicht gött­li­chen Weis­heit. Sel­ber­den­ken war schon immer etwas, was die mei­sten sich nicht zumu­ten moch­ten, gera­de Frau­en nicht.

    Ich bin Phi­lo­soph gewor­den, aber so etwas braucht sei­ne Zeit. Anfangs ist es eher so, daß man ein­fach alles ernst nimmt, auch den größ­ten Unfug, weil man ja nun selbst urtei­len ler­nen will. — Also habe ich mich rich­tig ein­ma­chen las­sen von geist­lo­sen Men­schIn­nen, die ihr Ver­gnü­gen dabei hat­ten, irgend­wel­che Rache­ge­lü­ste an mir zu exekutieren.

    Phi­lo­so­phie macht erst ein­mal schwach, weil man gar nichts mehr sicher weiß, wenn alles mög­lich sein könn­te, was denn nun noch gel­ten darf. Aber es ist unethisch, die Schwä­che ande­rer aus­zu­nut­zen und nicht dafür zu sor­gen, daß sie auf Augen­hö­he sind. — Im Zwei­fels­fall gibt man ihnen bes­se­re Argu­men­te ein­fach selbst zur Hand. Das ist kein Groß­mut, das ist nicht gön­ner­haft, son­dern ein­fach nur mensch­lich. Es ist eben kei­ne Demü­ti­gung, man will doch, daß das Gegen­über ein eben­sol­ches ist und auch blei­ben soll.

    Das wäre Kon­zi­li­anz und wah­re gei­sti­ge Grö­ße, alles ande­re ist ein­fach nur banau­sen­haft. — Aber in der Welt von Ali­ce Schwar­zer, die die­sen uner­bitt­li­chen Geschlech­ter­kampf in Sze­ne gesetzt hat, war das natür­lich ver­pönt. Und alle ihre Vesta­lin­nen taten, was der Furie ein Wohl­ge­fal­len war.

    Ich erin­ne­re mich noch mit Schau­dern dar­an, wie sich die­ser Schwarzer–Feminismus all­mäh­lich das For­mat von Ras­sis­mus zuge­legt hat. Da wur­de näm­lich die natür­li­che Bös­ar­tig­keit “des” Man­nes ein­fach unter­stellt. — Wer da noch in der Iden­ti­täts­fin­dung war, konn­te glatt von die­sen Bull­do­ze­rIn­nen über­fah­ren wer­den. Par­don wur­de nicht gege­ben, um den unse­li­gen deut­schen Kai­ser zu zitieren.

    Zwei Rache­göt­tin­nen
    (Zeich­nung aus dem 19. Jahr­hun­dert nach einer anti­ken Vase)

    Ich erin­ne­re mich mit Ent­set­zen an die Dog­ma­tik nach Schwar­zers Gusto, daß angeb­lich in jedem Mann ein Gewalt­tä­ter, ein Ver­ge­wal­ti­ger und zuletzt auch ein Kin­der­schän­der “natür­lich” mit ange­legt sein soll. — Män­ner waren als sol­che eine Gefahr, denn sie könn­ten jeder­zeit sehen­den Auges außer Kon­trol­le zu gera­ten, weil sie eben ein­fach die­se mie­se männ­li­che Natur haben. Das sind Men­schen­bil­der aus den 50er Jah­ren, in denen das Wort vom “Trieb” jede Psy­cho­lo­gie ersetzt, weil danach gleich das Wort “Täter” kam.

    Das­sel­be Argu­men­ta­ti­ons­prin­zip habe ich neu­lich mit Ent­set­zen in einem mei­ner Semi­na­re wie­der erlebt: Wir müß­ten als ‘Wei­ße’ alle Schuld auf uns neh­men, weiß zu sein. Das sag­te ein Stu­dent, der Leh­rer wer­den will, über Inter­kul­tu­rel­le Gerech­tig­keit. — Ich habe gesagt: Das ste­hen Sie nicht durch. Sie über­neh­men sich, das kön­nen Sie gar nicht bewäl­ti­gen! Sie kön­nen es nur für sich selbst anders machen.

    Die Aus­wüch­se im Geschlech­ter­krieg waren irre: Es gab doch tat­säch­lich Män­ner, die fle­hent­lich um sich blick­ten, wenn sie mit einem Klein­kind zu tun beka­men. Es könn­te sich ja die böse Natur im unge­zähm­ten Inne­ren des Man­nes wider Wil­len los­ma­chen und außer Kon­trol­le gera­ten. — Sol­che Men­schen­bil­der sind selbst the­ra­pie­be­dürf­tig. Aber Ali­ce Schwar­zer hat jede Gele­gen­heit genutzt, die­se Wel­le, die sie selbst erzeugt hat, mit Won­ne und Zor­nes­rö­te zu Tode zu rei­ten. Die Moti­ve dafür lie­gen im Krieg, der nur mit ande­ren Mit­teln als Geschlech­ter­krieg fort­ge­setzt wurde. 

    Ich wäre damals nur zu gern mit den ersten Freun­din­nen, Lieb­schaf­ten und Selbst­su­che­rin­nen ins Ein­ver­neh­men gekom­men: Eman­zi­pierst Du mich, eman­zi­pie­re ich Dich! Wir wuß­ten doch alle gar nicht, wohin die Rei­se hin­ge­hen soll. Nur weg, aber wohin? — Sol­che Part­ner­schaf­ten wären aber Kol­la­bo­ra­ti­on mit dem Feind gewe­sen. Wie­viel Drit­tes Reich steckt eigent­lich noch immer hin­ter alledem?

    Erzählt wird von einer Bege­ben­heit, daß die jun­ge Ali­ce Schwar­zer in Paris mit Jean Paul Sart­re zum Inter­view ver­ab­re­det war. Und ja, die­ses unde­fi­nier­ba­re Ver­hält­nis zwi­schen den bei­den öffent­li­chen Intel­lek­tu­el­len wirk­te äußerst vor­bild­lich. — Aber ich fand das alles etwas suspekt. Was wur­de da eigent­lich ver­herr­licht? Sie führ­ten eben ein öffent­li­ches Leben und ich den­ke, daß vie­les ein­fach nur Insze­nie­rung war.

    Jeden­falls soll mit­ten­drin Simo­ne de Beau­voir plötz­lich ins Zim­mer gepol­tert sein, habe die Inter­viewe­rin abschät­zig ange­schaut und sei dann augen­blick­lich wie­der ver­schwun­den. — Und Ali­ce Schwar­zer, wie sie spä­ter zu Pro­to­koll geben wird, habe sich damals ob der übli­chen Kür­ze ihres Mini­rocks der­art geschämt…

    Die Tech­nik, die Sie im “Klei­nen Unter­schied” ein­setzt, war damals üblich und effekt­ha­schend. Das war auch in der angeb­lich wirk­lich wahr­haf­ten Arbei­ter­li­te­ra­tur so, mit denen jun­ge Leh­rer ihre Schü­ler trak­tier­ten, um sie auf dem Wege zur rich­ti­gen Ideo­lo­gie zu brin­gen, um ein bes­se­rer Mensch zu wer­den. — Ach die vie­len fal­schen Propheten…

    Was ler­nen wir dar­aus, gar nichts! Ich sit­ze gera­de auf dem Flug­ha­fen von Tene­rif­fa und mag die­se weib­li­chen Frau­en hier. Selbst­ver­ständ­lich machen sie alles mög­li­che, aber hier muß nicht dau­ernd her­vor­ge­ho­ben wer­den, daß sie ja eigent­lich ein Han­di­kap haben, näm­lich eine Frau zu sein und trotz­dem Bus­fah­re­rin. — Vor allem sind sie alle­samt immer eine Erschei­nung. Ich den­ke dann immer, daß wir das in Deutsch­land nicht haben, liegt eben am dau­er­haf­ten Krampf in der Geschlechterfrage.

    Es gab damals nicht ein­mal ein Wort für Fakes, weil man noch alles geglaubt hat, was gedruckt wur­de. Also muß­te, was in angeb­li­chen Inter­views, anfangs mit Arbei­tern dar­ge­stellt wur­de, doch auch der Lebens­wirk­lich­keit von Frau­en ent­spre­chen. Man kann ja nun in die­se Inter­views mit “den” Frau­en wer weiß was hin­ein­schrei­ben. — Und bei Ali­ce Schwar­zer ging es immer gegen die Ker­le. Sie wur­den in die­sem Geschlech­ter­krieg syste­ma­tisch in die Defen­si­ve getrie­ben, mit ihren scheuß­li­chen Ange­wohn­hei­ten aus Pene­tra­ti­ons­wut, Bru­ta­li­tät, Orgasm–Gap und grob­schlech­ti­gem Unmenschentum.

    Was mich damals schon gestört hat, weiß ich aller­dings inzwi­schen zu ver­tre­ten. Der “Päd­ago­gi­sche Eros” ist auch wie­der so ein Wort, das nach dem nun wirk­lich nicht aus­ge­präg­ten Sprach­ge­fühl von woken Pam­phle­ti­sten heu­te viel­leicht über­haupt nicht mehr benutzt wer­den darf, ist eine hei­li­ge Sache, aus Grün­den der Päd­ago­gik! — Nur das, was von innen her kommt, was aus eige­ner Ein­sicht, also intrin­sisch einen Pro­zeß der Selbst­ver­än­de­rung moti­viert, um tat­säch­lich ein ande­rer Mensch zu wer­den, ist ein­zig, was zählt.

    Ali­ce Schwar­zer hat die Dis­kur­se über Eman­zi­pa­ti­on geka­pert und dar­aus ihr Ding gemacht. Dabei stand die­se Aus­ein­an­der­set­zung ohne­hin auf der Tages­ord­nung. Die bei­den Krie­ge hat­te bewie­sen, wohin das alles führt, ein­fach nur in den Tod, ins Leid, in die Ver­zweif­lung und lebens­lan­ge Trau­ma­ta. Die mei­sten Kriegs­heim­keh­rer hat­ten Din­ge gese­hen, die kein Mensch sehen sollte.

    Aber auch die Gurus in den 70ern waren eine Pla­ge, weil sie zwar Glau­bens­sät­ze ver­kün­de­ten, aber kei­ne Anlei­tung zum Selbst­den­ken gaben. — Oppor­tu­ni­sten oder sol­che, die nur ihr Süpp­chen kochen woll­ten, haben es immer leich­ter als die, die alles selbst in Erfah­rung brin­gen, sich selbst über­zeu­gen und aus eige­ner Ein­sicht han­deln wollen.

    Ali­ce Schwar­zer hat aller­dings nicht nur Män­nern gescha­det, son­dern vor allem den Frau­en. “Was zie­he ich nur heu­te Abend zur Frau­en­grup­pe an”, das war ein star­kes Pro­blem sei­ner­zeit. — Die Kon­trol­le und Obser­vanz, der gering­schät­zi­ge Blick auf den Toi­let­ten, der miß­bil­li­gen­de Neid von Frau­en unter­ein­an­der, die bei aller Betu­lich­keit immer eher im Ver­drän­gungs­wett­be­werb unter­ein­an­der ste­hen, wur­de als Ver­hal­ten eben nicht über­wun­den. — Da lobe ich mir das Fair­play unter Män­nern, die ihre Aus­ein­an­der­set­zun­gen füh­ren, so daß es gut ist. Und im Unter­schied zur Rach­sucht unter Frau­en ist unter Män­ner vor allem eines völ­lig ver­pönt: Nachtreten.

    Ein­ge­übt wur­de wie­der nur weib­li­che Unter­ord­nung, nun­mehr beim Eman­zi­pie­ren nach zer­ti­fi­zier­ter Schwarzer–Methode. Alles ist, bleibt und blieb also immer nur das­sel­be. Wie schreck­lich. — Aber das war mal wie­der typisch.

    Es kam nicht dar­auf an, wer man/frau ist, wie frau/man sich gera­de fühlt und wor­auf es ankommt, son­dern ein­zig auf Anpas­sung und Duck­mäus­chen­tum kam es an. — Und unser­eins durf­te als Mann natür­lich nichts dazu sagen, von wegen Feind hört mit! Dage­gen hat­te der soeben erwa­chen­de Intel­lekt sich inzwi­schen schon ein paar Navi­ga­ti­ons­mit­tel zuge­legt. Ich plau­de­re ja nur zu gern aus, was ich gefun­den habe, das alles soll doch Men­schen stark machen, so daß sie über sich hin­aus­wach­sen können.

    Ich habe das ent­waff­nen­de Argu­ment zum ersten Mal von einem Kol­le­gen auf einer Tagung in Mann­heim gehört. Es stammt von einem Sozio­lo­gen, der nament­lich nicht genannt wer­den will und wohl im Osten der Repu­blik auf Braut­schau gegan­gen war. Er hob unge­fragt, wohl weil er ein Bedürf­nis ver­spür­te, durch sein Bekennt­nis end­lich Stel­lung zu bezie­hen, mit Ver­ve her­vor, daß die Frau­en im Osten ganz anders wären, als die im Westen, denn die­se wären doch eigent­lich nur Zicken.

    Sor­ry, da ist etwas dran! Vie­le Frau­en haben bei ihrer Eman­zi­pa­ti­on bequem­lich­keits­hal­ber eine Abkür­zung genom­men und sich von Frau Schwar­zer anlei­ten las­sen. Aber es kommt noch bes­ser: Ich muß geste­hen, daß ich die berühmt–berüchtigte klamm­heim­li­che Freu­de nicht ver­heh­len kann, wenn ich inzwi­schen die­sel­be Aus­sa­ge vor allem von Frau­en hören, die aus ande­ren Län­dern stam­men. — Übri­gens, es müs­sen gar nicht gelern­te Ossi–Frauen sein, das “ver­erbt” sich ein­fach so durch das geleb­te Leben an die Töch­ter. Gut so!

    Kunst­stück, bei ihren Müt­tern haben die Töch­ter im Westen immer die­ses Hin und Her des Lamen­tie­rens erlebt. Die­ser andau­ern­de Kampf für und gegen die Män­ner und dann der Dau­er­frust. — Frau will viel, kann sich aber nicht über­win­den, end­lich auch mal damit anzufangen.

    Und alles liegt an den Män­nern, die den Frau­en dann ersatz­hal­ber das Ate­lier finan­zie­ren, damit sie wenig­stens auf Kunst machen kön­nen. Aber glück­lich wird das alles nicht. — Die­sen Keil hat Ali­ce Schwar­zer in die See­len hete­ro­se­xu­el­ler Frau­en getrie­ben, zwi­schen Frau­en und Män­ner, vor allem aber mit­ten durch das Weib­li­che hindurch.

    Es gab eini­ge Kri­ti­ke­rin­nen, die weg­ge­bis­sen und gecan­celt wur­den, der Groß­teil aller ist aber der fal­schen Pro­phe­tin aus Köln gefolgt. Jede Fern­seh­dis­kus­si­on wur­de zur Abrech­nung. Dabei steckt im Hin­ter­grund eigent­lich nur ein gei­sti­ges Hin­ter­welt­le­rIn­nen­tum. — Auch, wie sie im Ver­fah­ren gegen Jörg Kachelm­ann aus­ge­rech­net für die Bild­zei­tung das Urteil schon längst gespro­chen hat­te, als die­se unsäg­li­che Geschich­te der Rache aus Lie­be und Eifer­sucht ans Licht kam.

    Anto­nio Tempesta: 
    Die Furie Tisi­pho­ne im Palast von Atha­mas, 1606.

    Hohes Gericht der Diskurse!

    Ich bean­tra­ge, daß zum ‘päd­ago­gi­schen Eros’ noch ein ‘psy­cho­lo­gi­scher Eros’ hin­zu­kom­men soll, näm­lich einer, der den Leu­ten ihre Wür­de läßt, so daß sie wie­der auf­ste­hen kön­nen. — Was soll all die­ser Haß, die Recht­ha­be­rei und der dum­me Bio­lo­gis­mus, mit dem Ali­ce Schwar­ze in der Geschlech­ter­fra­ge schon seit Jahr­zehn­ten einen Unfrie­den stif­tet, der ihr als Geschäfts­grund­la­ge dient.

    Wann wird sie end­lich Genug­tu­ung fin­den? — Aber soll­te man sie denn als Rache­göt­tin über­haupt ernst neh­men? Mit den Göt­tern ver­hält es sich näm­lich wie mit dem bekann­ten Wer­be­spruch: Die tun was!

    Wie­viel Opfer ver­langt sie noch? Sie ist und bleibt erwart­bar untröst­lich. Wür­de sie wirk­lich über­grei­fen­de Inter­es­sen im Kos­mos ver­tre­ten, so wie Göt­ter es tun, die eben nicht eher ruhen, bis Aus­gleich geschaf­fen wor­den ist, man könn­te es nach­voll­zie­hen. Sie betreibt aber nur ihr Ding nach Gutsherrinnenart.

    Das, genau das wäre eine Fra­ge für den psy­cho­lo­gi­schen Eros. Er soll bit­te sagen, ob die­ses rosti­ge Kriegs­beil nicht lang­sam zur Manie gewor­den ist. — Wenn nur nicht so vie­le Frau­en ihr Leben und ihr Glück dar­auf ver­wet­tet hätten.

    Es ist wie bei den Erin­ny­en. Das sind Pla­ge­gei­ster, die im sel­ben Augen­blick ent­ste­hen, wenn Kro­nos, der jüng­ste Sohn der Erd­göt­tin Gaia in der Geschich­te der Groß­göt­ter, auf Geheiß sei­ner Mut­ter den eige­nen Vater mit einer Sichel ent­mannt. — Sobald die Sichel ihre meu­cheln­de Tat voll­führt, spritzt ein Teil des gött­li­chen Samens ins Meer, wor­aus Aphro­di­te, die ‘Schaum­ge­bo­re­ne’ entsteht.

    Aber aus dem Blut, das auf Land fällt, ent­ste­hen Plagegeister.

    San­dro Bot­ti­cel­li: Die Geburt der Venus, 1485.

    Nun stellt sich immer die Fra­ge in sol­chen über­zeit­li­chen Ange­le­gen­hei­ten, war­um, wann und ob über­haupt sich so etwas wie­der beru­hi­gen könn­te. Immer­hin ist es eine Tat von kos­mi­schem Aus­maß. — Es ist die Fra­ge, was Frau Schwar­zer wirk­lich bewegt. Ist es Ver­gel­tung, ist es Aus­gleich, der Wunsch nach Wie­der­gut­ma­chung oder die Her­stel­lung von Har­mo­nie, auf die sie sich wohl nicht wirk­lich ver­steht? Oder hat sie nicht ein­fach nur den rui­nö­sen Geschlech­ter­kampf zum Geschäfts­mo­dell ihres Lebens gemacht?

    Ich den­ke an einen mei­ner wich­tig­sten Philosophie–Lehrer an der Uni in Mün­ster, dem ich viel zu ver­dan­ken habe, weil er im Zuge sei­ner “Phi­lo­so­phie der Beschrei­bung” den Per­spek­ti­vis­mus zur Metho­de erho­ben hat. Das habe ich über­nom­men. — Ich will alle Per­spek­ti­ven wür­di­gen, denn alle sind gleich weit zu Gott. Daher zäh­len für mich auch immer Posi­tio­nen, die nicht mei­ne sind. Ich will, daß sie alle eine fai­re Chan­cen haben, sich ver­tre­ten und durch­set­zen zu kön­nen. Möge die bes­se­re Theo­rie gewinnen!

    Aber wie sag­te doch die­ser Phi­lo­soph immer wie­der, weil er die Welt schluß­end­lich offen­bar nicht mehr ver­stand: “Ja, da gibt es jetzt so eine neue Zeit­schrift, die Emma.” — Es hat nie jemand dar­auf geant­wor­tet, ich auch nicht. Heu­te wür­de ich es kön­nen und ich wür­de das Wort ergrei­fen, ganz gewiß.

    Ich dan­ke Fried­rich Kaul­bach, der wohl nicht gewußt hat, daß er einer mei­ner wich­tig­sten Leh­rer wur­de. Die­se Glos­se ist ihm gewidmet.

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    Wohl beraten sein

    Über das Regieren seiner selbst

    Eigent­lich sind wir ja alle Köni­ge und Köni­gin­nen. Man­che sind Dik­ta­to­ren, ande­re Des­po­ten und nicht weni­ge sind die Reprä­sen­tan­ten von “fai­led states”.

    Fre­de­rick Leigh­ton: Römi­sche Vesta­lin, 1880.

    Wenn in der grie­chi­schen Phi­lo­so­phie von “sophro­sy­ne” gespro­chen wird, dann geht es um “Wohl­be­ra­ten­sein”. Also gut, man ist jetzt König oder Köni­gin, kann ziem­lich viel befeh­len und muß nicht wirk­lich dis­ku­tie­ren. – Dabei bin ich mir nicht ganz sicher, ob die­ser Vor­zug, nicht mal mehr mit sich reden las­sen zu müs­sen, weil man doch so hoch­wohl­ge­bo­ren ist, wirk­lich zum Vor­teil gereicht. 

    Gera­de am Wider­sprüch­li­chen kann man doch die eige­ne Auf­fas­sung minu­ti­ös schär­fen. Gera­de an klei­nen Unter­schie­den läßt sich genau­er erken­nen, wor­auf es denn nun wirk­lich ankom­men soll­te. – Aber nur die wenig­sten ver­ste­hen sich dar­auf, mit sol­che Fül­le an Mög­lich­kei­ten auch umge­hen zu kön­nen. 

    Es träu­men ja vie­le davon, ein guter Dik­ta­tor zu sein, weil sie neben dem Wet­ter auch gern noch die Poli­tik und viel­leicht gleich die gan­ze Schöp­fung ‘bes­ser’ machen wür­den, wenn man sie nur mal ran­lie­ße, an die Hebel der Macht, die es in Wirk­lich­keit nicht gibt. 

    Wir sind näm­lich spä­te­stens seit Niklas Luh­mann vor­ge­warnt: Soll­te man in die her­me­tisch ver­schlos­se­nen Kan­zeln der Pilo­ten, die wohl nicht von unge­fähr das­sel­be Wort haben, wie auch die Kol­le­gen in den Kir­chen. Soll­te man es also tat­säch­lich fer­tig brin­gen, dort ein­zu­drin­gen, die Flug­zeug-Kan­zeln wären leer. Kein Pilot nir­gends. Alles ist auf Autopilot. 

    Das hängt nun wie­der­um damit zusam­men, daß schon seit Jahr­mil­lio­nen gera­de bio­lo­gi­sche Pro­zes­se sich selbst steu­ern. Ins­be­son­de­re auch das Wett­rü­sten zwi­schen Viren und Wir­ten. – Hän­disch ist da nicht viel zu machen, höch­stens kol­la­bie­ren las­sen kann man das Gan­ze, sogar auf der Stelle.

    Ich hat­te mal einen Traum. Da war ich König oder so etwas. Jeden­falls hat­te ich die Befehls­ge­walt und sonst kei­ner. Also end­lich konn­te ich mal sagen, was Sache ist. – Und ich sag­te also zu mei­nem ersten Mini­ster, er möge “Frie­den” schaf­fen und die Leu­te “glück­lich” machen. 

    Ein lehr­rei­cher Traum war das, weil ich ziem­lich schnell hoch alar­miert auf­ge­wacht bin. Alles war aus dem Ruder gelau­fen. Der Unhold kam doch tat­säch­lich mit blut­ver­schmier­ten Hän­den zurück!

    Das ist, was man oder auch frau beim König­sein berück­sich­ti­gen soll­te. – Befeh­len ist viel zu ein­fach. Wohl­be­ra­ten­sein, das wäre es. Aber wer berät die Bera­ter und vor allem, wer ret­tet die Bera­te­nen? – Also wann wäre man denn nun wirk­lich “wohl beraten”? 

    Das Pro­blem mit den Bera­tern liegt dar­in, daß die­se ver­kau­fen wol­len und müs­sen. – Alle ver­hin­der­ten Köni­ge und Köni­gin­nen mögen daher ersatz­hal­ber an den letz­ten Arzt­be­such den­ken, in dem es ja auch ‘nur’ um Bera­tung ging. – Und was hat man “gekauft”, wozu man sich hat “breit­schla­gen” lassen? 

    Hat man eigent­lich ver­stan­den, was der Weiß­kit­tel einem hat­te weiß machen wol­len? – Sor­ry: War­um hat man einer Behand­lung zuge­stimmt, von der man gar nicht ver­stan­den hat, was sie eigent­lich mit einem macht? 

    Ach ja, das ist Ver­trau­en? – In wen oder was? Kann man Ver­ant­wor­tung abge­ben? Wer hät­te denn mit den Fol­gen zu leben? 

    Ich muß schon sagen, daß ich nie ver­stan­den haben, daß Pati­en­ten vor­geb­lich wirk­lich glau­ben, daß sie nur einen ganz tie­fen, höchst ver­trau­ens­voll insze­nier­ten Blick in die Augen ihres Arz­tes wer­fen müß­ten, und schon haben sie ihn für sich ein­ge­nom­men. – Wie naiv ist das denn?

    Ich bin heu­te im Semi­nar über die “Schön­heit der See­le” durch eine Ein­flü­ste­rung ret­ten­der Musen bei Wind­stil­le auf die ret­ten­de Idee gebracht wor­den, daß “Wohl­be­ra­ten­sein” zustan­de gebracht wird, wenn wir uns mit allen Instan­zen im “forum inter­num” regel­mä­ßig zum Arbeits­früh­stück ver­ab­re­den. Das wäre Wohlberatensein. 

    War­um besorgt man sich nicht als näch­stes einen Ter­min beim eige­nen Gewis­sen? Man könn­te genau­er abstim­men, was im eige­nen Inter­es­se wäre, daß das Gewis­sen in sei­ner ziem­lich klein­ka­rier­ten Auf­merk­sam­keit bit­te im Dien­ste der gemein­sa­men Sache sei­ne per­ma­nen­ten Son­die­run­gen zur Anwen­dung bringt, um dafür zu sor­gen, daß uns nichts wesent­li­ches entgeht. 

    Ein wei­te­res ist heu­te auf­ge­fal­len: Offen­bar gibt es eine Ver­bin­dung zwi­schen dem Selbst­be­wußt­sein und dem Gewis­sen. – Wer sich selbst wür­dig ver­hält, kann, darf und wird auf eine dem­entspre­chen­de Behand­lung einen gewis­sen Anspruch gel­tend machen.

    Mut­maß­li­cher­wei­se haben wir in unse­rer kri­sen­ge­schüt­tel­ten Gegen­wart inzwi­schen einen Ent­wick­lungs­stand in der Psy­cho­ge­ne­se erreicht, von dem ab an es mög­lich, aber auch erfor­der­lich gewor­den ist, Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät an den Tag zu legen. – Das bedeu­tet, daß wir das EINE tun kön­nen, ohne das ANDERE las­sen zu müs­sen. Wir kön­nen nicht nur, wie soll­ten sogar “wider­sprüch­lich” agie­ren, ganz nach Art von Köni­gen und Königinnen. 

    Wäh­rend Kant noch “Ein­stim­mig­keit mit sich selbst” ein­for­dert, kön­nen wir es uns offen­bar neu­er­dings sogar lei­sten, mit wech­seln­den Mehr­hei­ten zu regie­ren. – Das wäre ohne­hin das Beste: Eine Gesell­schaft, in der solan­ge dis­ku­tiert wird, bis eine Par­tei auf­gibt und geht, weil ihr nichts mehr ein­fällt, der eige­nen Auf­fas­sung wei­ter­hin Auf­trieb zu verschaffen. 

    Das soll bei den India­nern im Älte­sten­rat der Fall gewe­sen sein. Darf man noch India­ner sagen? – Doch, weil es ein Ehren­wort vol­ler Hoch­ach­tung ist für ganz beson­de­re Men­schen, denen Zugän­ge zu Wel­ten zuge­traut wer­den, die wich­ti­ger sind als die unhei­li­gen Bot­schaf­ten aller Waren­fe­ti­schi­sten, die uns neu­er­dings in den Hype um die Kryp­to­wäh­run­gen ein­wei­hen wol­len, als wäre das so etwas wie eine Initiation. 

    Laß es Lie­be sein: Lie­be zur Welt, zum Men­schen, zur Natur und sogar zum Schick­sal. – Es bleibt uns schluß­end­lich nur eines: Ver­ste­hen. Und das in Zei­ten, die das Ver­ste­hen zur Sün­de erklärt haben. 

    Lie­be und Ver­ste­hen, war das nicht schon immer dasselbe?

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    Ich weiß, daß ich nichts weiß

    Über Urteilsvermögen im Umgang mit Nichtwissen

    Wer kennt die­se Selbst­aus­sa­ge nicht. – Aber wer hat wirk­lich ver­stan­den, was sie bedeu­tet? Ja, die Sen­tenz stammt von Sokra­tes und die mei­sten machen es sich zu leicht, wenn sie anneh­men, daß es Aus­druck sei­ner Beschei­den­heit ist. Irrtum!

    Sokra­tes ist ganz und gar nicht beschei­den, er will immer alles ganz genau wis­sen und geht dann bis an die Gren­zen des­sen, was über­haupt noch mög­lich ist. Nicht sel­ten steht er dann da, wie einst Keith Jar­rett bei einem Kon­zert in Ham­burg. – Der Flow kam ein­fach nicht und man kann ja nun die Göt­ter nicht zwin­gen, wenn sie offen­kun­dig ganz woan­ders was bes­se­res zu tun haben.

    Also hat er sich red­lich bemüht, ist dann auf­ge­stan­den und hat sich direkt ans Publi­kum gewandt mit der Fra­ge: “Ist hier ein Pia­nist, der das Kon­zert fort­set­zen kann?”

    In sol­chen Situa­tio­nen nei­gen die mei­sten Zeit­ge­nos­sen dazu, ins Glau­ben zu sprin­gen. Man gibt die Steue­rung aus der Hand und schal­tet das Den­ken auf Auto­pi­lot. Aber in Wahr­heit weiß man doch gar nicht, wo es hin­ge­hen soll. Und beur­tei­len, was man denn nun anneh­men oder gar glau­ben soll­te, kön­nen die wenig­sten, weil es ihnen an Urteils­fä­hig­keit fehlt.

    Will­kür­li­che Moti­ve, die mit der Sache selbst kaum etwas zu tun haben, spie­len dann immer her­ein. Aber der eigent­li­che Grund für die­ses Ein­knicken vor den Risi­ken der See­fahrt im Den­ken liegt woan­ders: Man kann das eige­ne Den­ken nicht in der Schwe­be halten!

    Und dann wird der Main­stream bemüht, man schließt sich irgend­ei­ner herr­schen­den Mei­nung an, die zuvor von den Alpha­tie­ren unter den Mei­nungs­ma­chern bei Twit­ter aus­ge­kas­pert wor­den ist. Dank­bar wird das dann von kar­rie­re­be­flis­se­nen Nach­wuchs­kräf­ten auf­ge­grif­fen und exe­ku­tiert. Alle, die jetzt noch anders den­ken, sol­len ent­we­der schwei­gen oder sie wer­den exkom­mu­ni­ziert. – Wo kämen wir hin mit der herr­schen­den Mei­nung, wenn jeder selbst den­ken wollte?

    Die wenig­sten Zeit­ge­nos­sen sind wil­lens und in der Lage, die eige­nen Gedan­ken in der Schwe­be zu hal­ten, um dann auch noch sank­tio­niert zu wer­den von Bes­ser­wis­sern und vor allem von Bes­ser­men­schen. – Und den­noch hat sich da eine neue Iden­ti­tät her­aus­ge­bil­det, es ist die derer, die dem Druck beacht­li­cher­wei­se stand­ge­hal­ten haben. Es sind die, die sich haben ver­un­glimp­fen las­sen, die sich tag­täg­lich haben “frei­te­sten” las­sen müs­sen, um noch ihrer Arbeit und ihren Ver­pflich­tun­gen nach­ge­hen zu können.

    “Zeit der Abrech­nung”, das klingt wie der Titel für einen schlech­ten Western. Wobei ich aller­dings zuge­ste­hen muß, daß mir ein wenig danach ist, Abrech­nung. – Die Dop­pel­mo­ral, sich einer­seits zu ver­bie­gen, weil man doch schon zeit­le­bens ein Häk­chen hat­te wer­den wol­len, um dann dop­pelt zu kas­sie­ren, ist gera­de­zu skan­da­lös. Einer­seits war man ja so etwas von vor­bild­lich des “klei­nen Pik­sens” wegen und ande­rer­seits wur­de man auch noch belohnt, durf­te wie­der ins Restau­rant und in den Urlaub flie­gen, wäh­rend Son­der­lin­ge wie ich nicht ein­mal mehr in den Bau­markt gehen durf­ten, um sich wenig­stens etwas zum Basteln zu holen.

    Ja, ich möch­te Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, bevor ich über­haupt wie­der bereit bin, mich mit denen zu ver­stän­di­gen, die aus ihrem Her­zen eine Mör­der­gru­be gemacht haben.

    Ich will mir jetzt von den Impf­vor­dräng­lern nicht auch noch erklä­ren las­sen, daß ich nicht nur Impf­skep­ti­ker bin, son­dern auch noch Putin­ver­ste­her, wenn ich auf die Ver­ant­wor­tung des Westens unter der ego­ma­ni­schen Füh­rung der USA hin­zu­wei­sen nicht müde wer­de. – Die rhe­to­ri­schen Figu­ren sind die­sel­ben, man ist dann ein Leug­ner, der angeb­lich aus­ge­grenzt gehört. In den Augen der Über­an­ge­paß­ten ist Ver­ste­hen nun­mehr zur Sün­de geworden.

    Ich habe früh­zei­tig öffent­lich davor gewarnt, daß sich die Erwach­se­nen in ihrer pani­schen Angst nicht auch an Kin­dern, Jugend­li­chen und an alten und ster­ben­den Men­schen ver­grei­fen dür­fen. Aber die Angst hat vie­le ermäch­tigt, gewis­ser­ma­ßen über Lei­chen zu gehen. – Und jetzt will es wie­der mal kei­ner gewe­sen sein. Die Ver­tre­ter der Ethik-Kom­mis­si­on, die Bun­des­ver­fas­sungs­rich­ter und die Rie­ge der Scharf­ma­cher und Haß­pre­di­ger zucken ein­fach nur mit den Schul­tern und möch­ten nicht mehr dar­an erin­nert wer­den. Shit happens?

    Sor­ry, als es mir zu dumm wur­de, habe ich sei­ner­zeit schon zwi­schen Nicht­den­kern und Selbst­den­kern unter­schie­den. Und nicht sel­ten ging es mir in der Coro­na-Zeit, hin­ter den Git­ter­stä­ben des Lock­down-Syn­droms, wie dem Pan­ther von Ril­ke und wie Keith Jar­rett im miß­lun­ge­nen Kon­zert von Hamburg.

    Über dem Ein­gang zur Aka­de­mie von Pla­ton in Athen soll der Spruch gestan­den haben, es möge nie­mand ein­tre­ten, der nichts von Mathe­ma­tik ver­stün­de, was damals eher eine durch­aus anschau­li­che Geo­me­trie war. – Mein Prin­zip habe ich bei Hans Blu­men­berg gefun­den, der davon sprach, daß man den Augen­hin­ter­grund spie­geln soll­te, um zu sehen, wor­auf ande­re wirk­lich Wert legen.

    Es ist ja nun nicht so, daß nicht ein und der­sel­be Gedan­ke immer wie­der, in allen erdenk­li­chen Dar­rei­chungs­for­men gebo­ten wor­den ist. Hier etwa bei Fran­kie Goes to Hollywood:

    “Relax, don′t do it
    When you wan­na go do it
    Relax, don’t do it
    When you wan­na come”

    In mei­nen Semi­na­ren for­de­re ich dazu auf, auch stei­le The­sen zu ver­tre­ten. Die Kunst liegt schließ­lich dar­in, mög­lichst genau in Erfah­rung zu brin­gen, wann eine Theo­rie kol­la­biert. Nicht weni­ge bre­chen bereits an ihrem eige­nen Gewicht in sich zusam­men, man muß sie nicht ein­mal schief anschauen.

    Dann gibt es wel­che, die unter Bela­stung erstaun­lich lan­ge hal­ten, wor­auf ich dann aber den Mei­ster­test mache, ob eine hoch­mö­gen­de Auf­fas­sung auch in der Lage ist, sich selbst zu ertra­gen. – Eine gute Theo­rie soll­te fähig sein, “neben sich” auch noch ganz ande­re, womög­lich kon­kur­rie­ren­de Auf­fas­sung tole­rie­ren und mit ins Gespräch zie­hen zu können.

    Wenn eine Theo­rie die das nicht kann, weil deren Ver­tre­ter zumeist der­art über­zeugt sind von ihrer “Alter­na­tiv­lo­sig­keit”, dann dis­qua­li­fi­zie­ren sie sich selbst, denn das ist unphi­lo­so­phisch und nicht sel­ten auch unmo­ra­lisch. – Sokra­tes war gera­de nicht beschei­den, ganz im Gegen­teil. Die ande­ren, haben ihn zum Tode ver­ur­teilt, weil sie das Phi­lo­so­phie­ren nicht mehr ertru­gen, weil sie nicht wei­ter­hin bei ihren Dumm­hei­ten öffent­lich über­führt wer­den mochten.

    Sokra­tes glaubt den Prie­stern des Ora­kels nicht, weil er es doch bes­ser von sich weiß, weil er weiß, daß er nichts weiß. – Dar­auf beginnt er sei­ne Kam­pa­gne, mit der er sich in den Augen der Hono­ra­tio­ren unmög­lich macht, wenn er sie der Rei­he nach alle vor­führt. – Ich habe schon oft dar­über nach­ge­dacht, ob es nicht auch ein geschick­tes Manö­ver der Prie­ster von Del­phi gewe­sen sein könn­te, dafür zu sor­gen, daß Sokra­tes sich selbst unmög­lich zu machen beginnt.

    Mark Anto­kol­ski: Death of Socra­tes, 1875.

    Ich stel­le mir vor, wie Sokra­tes in sei­ner gan­zen Bar­fü­ßig­keit an einer Sei­te die Ago­ra betritt und auf der ande­ren Sei­te die gefühlt Wis­sen­den flucht­ar­tig das Wei­te suchen. Wer nicht schnell genug ist, wird sich einem Gespräch stel­len müs­sen, das eigent­lich nicht dazu dient, den ande­ren nur vor­zu­füh­ren, denn das machen die Bes­ser­wis­ser schon selbst.

    Ihr Feh­ler ist kar­di­nal, sie mei­nen, daß man die­ses und jenes wirk­lich so ver­bind­lich und ein­deu­tig wis­sen kön­ne, so daß man rich­ten kann über ande­re, die eben nicht “rich­tig” den­ken. – Genau die­se hoch­mö­gen­den Zeit­ge­nos­sen wer­den jetzt aber vor­ge­führt, indem ihnen die Gele­gen­heit gege­ben wird, sich selbst vorzuführen.

    Aber es geht dabei kei­nes­wegs um eine Kampf, wie so vie­le noch immer mei­nen. Als wäre Phi­lo­so­phie so etwas wie eine Lust am Schar­müt­zel, wobei es dar­auf ankä­me, ande­re der­art in Ver­le­gen­heit zu brin­gen, so daß sie “nichts mehr sagen kön­nen”. – Ein wirk­li­cher phi­lo­so­phi­scher Dia­log hat dage­gen immer etwas Kon­sen­su­el­les. Man spricht gemein­sam etwas an und ent­wickelt dann auch gemein­sam wei­ter­ge­hen­des Denken.

    Dabei wird es aber immer kom­ple­xer, weil wir ganz all­mäh­lich gemein­sam immer mehr sehen und “ein­se­hen”, was auch auf irgend­ei­ne Wei­se rele­vant sein dürf­te. – Genau das aber hal­ten die wenig­sten aus. Sie glau­ben ernst­haft, am Ende käme immer nur die ein­zi­ge, unteil­ba­re, wis­sen­schaft­lich-wis­sen­schaft­li­che Wahr­heit über die wirk­lich wirk­li­che Wirk­lich­keit dabei her­aus. Und alle hät­ten sich nun die­ser ein­zi­gen Wahr­heit wie beim Göt­zen­dienst zu unterwerfen.

    Gera­de die­se Zeit­ge­nos­sen haben sich gehen las­sen wäh­rend der blei­er­nen Zeit. Man konn­te mal wie­der so rich­tig einer ein­zig rich­ti­gen Auf­fas­sung sein und end­lich auch mal wie­der den Block­wart geben. Ich habe mich gern von man­chen Men­schen getrennt in die­ser Zeit, weil ich gese­hen habe, daß sie mir auch bis­her eigent­lich immer nur mei­ne Denk­zeit gestoh­len und die Musen ver­grault haben.

    Die ganz gro­ße Feig­heit kam bei denen hin­zu, die sich in die Schwei­ge­spi­ra­le zurück­ge­zo­gen haben, und rein gar nichts mehr kund getan haben. Sie haben ihr Süpp­chen im Stil­len gekocht. – Aber auch sie sind mit ver­ant­wort­lich für de Irr­sinn, in den sich ein Groß­teil der Gesell­schaft vor allem in Deutsch­land hat von einer Pres­se trei­ben las­sen, die sich plötz­lich wie die Hei­li­ge Inqui­si­ti­on auf­ge­führt hat. – Ja, und jetzt kommt die Abrech­nung, wenn die unse­li­gen Unsäg­lich­kei­ten aus den Pro­to­kol­len der Pan­ther­zeit wie­der zum Besten gege­ben wer­den. Im Nach­hin­ein klingt das alles noch schau­der­haf­ter, so daß man sich fra­gen möch­te, wie sehr wol­len eigent­lich die, die sich da so haben gehen las­sen, mit ihrem Scham­emp­fin­den klar kommen?

    Sie haben sich ver­füh­ren, in ihrer ein­ge­bil­de­ten Gewiß­heit zu wis­sen, was sie nicht wis­sen kön­nen, und das alles mit gefähr­li­chem Halb­wis­sen. Mit Ent­set­zen den­ke ich an die vie­len unbe­hol­fe­nen Gesprä­che über natur­wis­sen­schaft­li­che Zusam­men­hän­ge zurück, die ein­fach nur heil­los verliefen.

    Ja, es ist so. Wir wis­sen nichts! – Das hat der gries­grä­mi­ge Her­bert Weh­ner in dem berühm­ten Fern­seh­in­ter­view mit Hans Die­ter Lueg mit aggres­si­ver Hoch­po­tenz unbe­zwei­fel­bar klar gestellt. – Übri­gens ist es köst­lich, wie sich bei­de behar­ken und Weh­ner sein Gegen­über als “Herr Lüg” titu­liert, wor­auf die­ser, gar nicht ver­le­gen mit “Herr Wöh­ner” kontert.

    Unge­fähr so stel­le ich mir eine phi­lo­so­phi­sche Per­for­mance des Phi­lo­so­phen unter den Phi­lo­so­phen vor, wie er, gefolgt von einer Entou­ra­ge hoch­wohl­ge­bo­re­ner Jün­ger den Hono­ra­tio­ren wie­der ein­mal eine Abfuhr nach der ande­ren erteil­te und die Jüng­lin­ge dar­über in wie­hern­des Geläch­ter aus­bra­chen. Nichts ist schlim­mer als die ein­ge­bil­de­te Weis­heit, daher habe ich auch kein Mit­leid, denn die Ver­tre­ter des Nicht­selbst­den­kens haben sich den Spott red­lich verdient.

    Und nein, wir ste­hen kei­nes­wegs nackt da, son­dern ganz im Gegen­teil. Es wird sogar immer bun­ter, sobald das Den­ken ins Schwe­ben kommt, weil sich immer mehr gute Gei­ster ein­stel­len, denn wo einer ist, kom­men bald schon ande­re hin­zu. – Das geschieht aber nur, wenn gar nicht mehr irgend­ein Anspruch erho­ben wird, irgend­et­was jetzt aber nun ernst­haft und unbe­zwei­fel­bar mit Gewiß­heit wis­sen zu kön­nen und zwar so, daß sich ande­re gefäl­ligst dar­an zu hal­ten haben.

    Wor­auf es beim Umgang mit Nicht­wis­sen ankommt? – Wir ver­fü­gen hof­fent­lich über eine Urteils­kraft, die sich auf das Schwe­ben ver­steht. Und die­ses Urteils­ver­mö­gen ist für Situa­tio­nen zustän­dig, in denen wir ein­fach nicht genug wis­sen können.

    Phi­lo­so­phie ist daher auch nicht ein­fach nur eine Tätig­keit, es geht auch nicht nur um Tech­ni­ken des Den­kens, Schluß­fol­gerns und Bewei­sens. Es geht viel­mehr um eine Lebens­hal­tung, die aller­dings auch ein­ge­übt wer­den kann.

    Wenn Dia­lo­ge und Dis­kur­se sich in unse­rer ein­fäl­ti­gen Zeit und unter Abse­hung der vie­len Ein­di­men­sio­na­li­tä­ten end­lich ein­mal lösen von der Gedan­ken­schwe­re ihrer Blind­heit und ris­kie­ren, mit dem Schwe­ben zu begin­nen, dann ist es der Aus­druck von Selbstbewußtsein.

    Man muß es sich eben auch lei­sten kön­nen, vie­len Gedan­ken ihre Chan­cen zukom­men zu las­sen. Dann ist Schluß mit die­sem grim­mi­gen Recht­ha­ben­wol­len, wenn end­lich die Ein­stim­mung in die phi­lo­so­phi­sche Grund­hal­tung auf­kommt, um bereit­wil­lig Platz zu machen für den Auf­tritt aller erdenk­li­cher Gedan­ken, Gefüh­le und Gei­ster, von denen einer bemer­kens­wer­ter als der ande­re ist. 

    Wenn dem so ist, dann kann Geist auf­kom­men. Aber die­ser macht das nur in Aus­nah­me­si­tua­tio­nen, weil er anson­sten weit bes­se­res zu tun hat. – Wenn wir uns aber die­se Frei­hei­ten her­aus­neh­men im Gespräch, dann kommt auf, was in den alten Schrif­ten als “Lachen der Wei­sen” dar­ge­stellt wird.

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    Über Wildheit und Schönheit

    Ariadne reitet den Panther des Dionysos

    Mär­chen, Mythen und Meta­phern sind so etwas wie Algo­rith­men. Es ist daher nicht nur inter­es­sant, son­dern hilf­reich, sich je nach Fra­ge­stel­lung stets ein­ge­hen­der mit den ein­schlä­gig bekann­ten mythi­schen Figu­ren zu befassen.

    So läßt sich genau­er nach­voll­zie­hen, was im Zuge der Kul­tur­ge­schich­te an Erfah­run­gen in die Mythen ›hin­ein­ge­schrie­ben‹ wor­den ist, denn das läßt sich auch wie­der ›her­aus­le­sen‹. — Dar­in liegt der eigent­li­che Hin­ter­sinn von Mytho­lo­gie, es geht näm­lich um mehr als erbau­li­che Geschichten.

    Der Ein­gang ins Ver­ste­hen läßt sich fin­den, indem wir unter den vie­len Mythen die­je­ni­gen aus­wäh­len, die viel­ver­spre­chend erschei­nen, weil ähn­li­che Pro­ble­me ver­han­delt wer­den. — Das ›pas­sen­de‹ Nar­ra­tiv einer mythi­schen Bege­ben­heit wird dann ›über­tra­gen‹ auf unse­ren Sach­ver­halt, über den wir die über­zeit­li­chen Erfah­run­gen auf­schlie­ßen sollten.

    In die­sem Fall scheint Ari­ad­ne hilf­reich zu sein, weil sie sich gene­rell mit Laby­rin­then aus­kennt. Die Prin­zes­sin von Kre­ta war The­seus dabei behilf­lich, sich im eigens für den stier­köp­fi­gen Mino­tau­rus geschaf­fe­nen Laby­rinth zu ori­en­tie­ren. Daß es sich beim Ari­ad­ne­fa­den aber um ein bana­les Woll­knäu­el gehan­delt haben soll, ist nicht wirk­lich über­zeu­gend. — Selbst­ver­ständ­lich steht es uns frei, im Zwei­fels­fall unzu­frie­den zu sein mit dem, was uns die kinds­ge­rech­ten Les­ar­ten bieten.

    Die Mythen sind von einer Kul­tur auf die näch­ste über­ge­gan­gen, so daß wir über vie­le Mög­lich­kei­ten ver­fü­gen, in den Fein­hei­ten zwi­schen den Vari­an­ten genau­er zu lesen, um den dar­in ver­bor­ge­nen Sinn her­aus­zu­le­sen: Ari­ad­ne ist Schü­le­rin der Cir­ce, die wie­der­um auf die Isis zurück geht, einer über­aus mäch­ti­gen ägyp­ti­schen Göt­tin der Zauberkunst.

    Wie Medea ist auch Ari­ad­ne bestens mit dem Zau­bern ver­traut, die Wege blockie­ren aber auch öff­nen kön­nen. Dabei wird das Laby­rinth bald zum Sym­bol für den Lebens­weg, der oft in aus­weg­lo­se Lagen führt aber nicht wie­der her­aus. — Die eigent­li­che Bedeu­tung von Ari­ad­ne liegt also dar­in, Ori­en­tie­rung zu bie­ten, gera­de auch in Kon­stel­la­tio­nen, die etwas von einem Laby­rinth haben.

    Der Zau­ber, mit dem Ari­ad­ne gan­ze Laby­rin­the zu bewäl­ti­gen hilft, liegt jedoch rät­sel­haf­ter­wei­se im Geheim­nis von Schön­heit. — Das Prin­zip lau­tet: Bezäh­mung der Wild­heit durch die Schönheit.

    Auf die­se geheim­nis­vol­le For­mel kommt der würt­tem­ber­gi­sche Bild­hau­er Johann Hein­rich von Dannecker auf­grund sei­ner Stu­di­en­rei­se nach Rom. Damit bringt er sei­ne Inspi­ra­ti­on auf den Begriff. — Der Geist sei­ner vor­zei­ten über­aus popu­lär gewor­de­nen Skulp­tur: Ari­ad­ne auf dem Pan­ther, ent­birgt eine phi­lo­so­phi­sche Spe­ku­la­ti­on von ganz beson­de­rer Bedeutung.

    Johann Hein­rich von Dannecker, Ari­ad­ne auf dem Pan­ther, 1803–1814, im Lie­bieg­haus in Frank­furt am Main.

    Der Pan­ther ist das Wap­pen­tier für den Wein– und Rausch­gott Dio­ny­sos, der im übri­gen nicht nur der Vor­läu­fer von Jesus Chri­stus in vie­len Aspek­ten sei­ner Sym­bo­lik ist, son­dern der dabei auch noch tie­fer blicken läßt in sei­ne bipo­la­re Psyche.

    Die­ser Gott der Eksta­se hat selbst eine über­aus kom­pli­zier­te Ver­gan­gen­heit, und die macht ihn zum Bor­der­li­ner. Sobald er auch nur den gering­sten Ver­dacht ver­spürt, er könn­te even­tu­ell auch nur schief ange­schaut wor­den sein, greift er zu dra­ko­ni­schen, uner­bitt­li­chen und scheuß­li­chen Rache­ak­ten, die völ­lig unver­hält­nis­mä­ßig sind.

    Da wird dann das, was die­se Skulp­tur zu sagen ver­steht, zur fro­hen Bot­schaft über die Poten­tia­le einer not­wen­di­gen hei­li­gen Hand­lung: Ari­ad­ne bewäl­tigt das Wil­de, Rohe und Unmensch­li­che sol­cher Rach­sucht durch Schön­heit! Die­ser Gedan­ke ist vor allem phi­lo­so­phisch von der­ar­ti­ger Bri­sanz, so daß ich sagen wür­de, ver­su­chen wir es doch! Immer­hin hat sich bereits Han­nah Are­ndt an die­sem Pro­jekt nicht ganz ver­geb­lich ver­sucht, eine Poli­ti­sche Theo­rie auf der Grund­la­ge der Ästhe­ti­schen Urteils­kraft zu ent­wickeln. — Wir soll­ten end­lich wie­der nach den Ster­nen greifen

    Es gibt inzwi­schen hin­rei­chen­de Anhalts­punk­te für die Annah­me, daß die Ver­nunft als Mei­ste­rin der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät mit Ästhe­tik vor­geht, wenn es gilt, in irgend­ei­ner Ange­le­gen­heit ›das Gan­ze‹ zu ver­ste­hen. Erst dann kom­men Dia­lo­ge und Dis­kur­se wirk­lich zur Ent­fal­tung, wenn alle, die nur Recht haben wol­len, end­lich ergrif­fen wer­den und sich zu fas­sen versuchen.

    Es kann näm­lich in der Ästhe­ti­schen Urteils­kraft gar nicht mehr ums Recht­ha­ben gehen. — Wir kön­nen nur noch an den Ande­ren appel­lie­ren, er möge doch auch so wie wir, etwas Bestimm­tes so emp­fin­den wie wir, um dann auf die tie­fe­ren Beweg­grün­de zu spre­chen zu kom­men, die sich ein­stel­len, wenn man es ver­steht, sich end­lich für Höhe­res zu öffnen.

    Im Mit­tel­al­ter wur­de die Höfi­sche Gesell­schaft auf ähn­li­che Wei­se geschaf­fen, als man die rauh­bei­ni­gen War­lords von Raub­rit­tern auf ihren zugi­gen Bur­gen abbrin­gen woll­te, von ihrem lukra­ti­ven Tun und Trei­ben, nach eige­nem Gesetz auf Beu­te­zug zu gehen. — Sie wur­den nach­hal­tig ›gezähmt‹ im Min­ne­sang, also durch Schön­heit. Für ihre Dame opfer­ten sie ihre Wild­heit, ihre Unge­stümt­heit und wohl auch einen nicht unbe­trächt­li­chen Teil einer Männ­lich­keit, die inzwi­schen man­chen Frau­en bei Män­nern fehlt.

    Es kommt dar­auf an, die Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät mit allen ihren Zumu­tun­gen und Her­aus­for­de­rung zu wür­di­gen in einer Welt, die immer mehr zum Amok­lau­fen neigt. — Irgend­was muß den stän­dig dro­hen­den Irr­sinn im Zaum hal­ten. Und genau das macht sie, die Göt­tin der ästhe­ti­schen Urteils­kraft: Ariadne.

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    Burnout der Gesellschaft

    Über die Macht der Medien und das Unbehagen in der Kultur

    Vortr., geh. am 31. Oktober 2022 im Studium generale: »Zeitenwenden – ein Kommen und Gehen«. Hochschule Konstanz – Technik, Wirtschaft und Gestaltung, Wintersemester 2022.

    Eine neue Medi­en­re­vo­lu­ti­on, die dem des Buch­drucks in nichts nach­steht, hat soeben erst begon­nen. Wir erle­ben nur den Anfang die­ser Zei­ten­wen­de und sind jetzt schon maß­los über­for­dert. Das alles führt zum Burn­out der Gesell­schaft, zum Ver­lust der Dia­log­fä­hig­keit und zum Rück­fall in längst über­wun­de­ne Zeiten.

    Rein­hold Völ­kel: Café Grienst­eidl in Wien (1896). — Das berühmt–berüchtigte Künst­ler­lo­kal in Wien, auch bekannt als ›Café Grö­ßen­wahn‹, war ein bevor­zug­ter Treff­punkt der Lite­ra­ten. — Eines vor allem sieht man hier, wie sehr die Zei­tun­gen alles domi­nier­ten und sich die Gemü­ter erhitz­ten. Es gras­sier­te die ›Neur­asthe­nie‹, das ›Burn­out‹ jener Tage.

    Das ist der heim­li­che Hin­ter­sinn sol­cher Kri­sen und Wen­de­zei­ten: Die Mensch­heit wird sich ange­sichts die­ser neu­en Ver­bun­den­heit ent­we­der wei­ter ent­wickeln oder im Cha­os unter­ge­hen und dann zumin­dest eini­ge Stu­fen her­un­ter­fal­len in ihrer Ent­wick­lung vom Tier zum qua­si gött­li­chen Wesen.

    Bei alle­dem ist eine all­ge­mei­ne Ten­denz ersicht­lich, die offen­bar von Anfang an hin­ter die­ser Ent­wick­lung steht: Es geht um mehr Indi­vi­dua­li­tät, Auto­no­mie und Selbst­ori­en­tie­rung, es geht um mehr Bewußt­sein, Empa­thie­ver­mö­gen, Selbst­be­wußt­sein und Geist.

    Die Natur hat im Men­schen ein Auge auf­ge­schla­gen, um sich selbst in den Blick zu neh­men. Dabei spielt Reli­gi­on nach wie vor eine ganz bemer­kens­wer­te Rol­le, nicht unbe­dingt im her­kömm­li­chen Sinne.

    Aber als Gespür für Höhe­res, ins­be­son­de­re für Auf­klä­rung und Huma­nis­mus, wer­den reli­giö­se Moti­ve noch über lan­ge Zeit erfor­der­lich sein. Denn was der Psy­che gut tut, muß nicht unbe­dingt auch gut sein für die Seele.

    Audiodatei des Vortrags:

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    Über Narziß, Adoleszenz und Anerkennung

    Der zerbrochene Spiegel 

    Wir wis­sen nicht, was Nar­ziß auf der spie­geln­den Was­ser­ober­flä­che gese­hen haben mag. Der Mythos vom Nar­ziß the­ma­ti­siert weit mehr als den dumm­drei­sten Nar­ziß­mus eines Selbst­ver­lieb­ten; wäre dem so, der Nar­ziß wäre kaum der Rede wert. — Tat­säch­lich geht es um etwas ande­res: Das Geheim­nis mensch­li­chen Bewußt­seins, das sich selbst spie­gelt, um sich sei­ner selbst gewiß zu wer­den, ist erst der Anfang einer lan­gen Rei­se ins eige­ne Innere.

    Die bei­den Haupt­fi­gu­ren in die­sem Mythos haben bemer­kens­wer­te Han­di­kaps, so daß sie ein­an­der nicht begeg­nen kön­nen. Alles beginnt mit der Nym­phe Echo, die von Zeus ani­miert wor­den ist, Hera nach Art der Sche­he­re­za­de mit unend­li­chen Geschich­ten von den Amou­ren des Gemahls abzu­len­ken, ins­be­son­de­re wenn die­ser wie­der ein­mal bei den Nym­phen weilt. Die oft rasend eifer­süch­ti­ge Hera ist bereits im Begriff, ihren Gat­ten in fla­gran­ti zu über­füh­ren, aber die geschwät­zi­ge Echo hält sie davon ab, indem sie wei­ter und wei­ter redet.

    Nach­dem Hera das Spiel durch­schaut hat, bestraft sie Echo, die nun­mehr erst zu dem wird, was ihr Name bereits über sie aus­sagt. Es wird der Nym­phe genom­men, was sie miß­braucht hat, um die Göt­tin hin­ters Licht zu füh­ren: Hera nimmt ihr die Fähig­keit eige­ner Rede, so daß sie nicht mehr von sich aus spre­chen, son­dern nur wie­der­ho­len kann, was sie hört. Von sich aus kann sie fort­an gar nicht mehr spre­chen, es bleibt ihr nur noch, die letz­ten Wor­te ledig­lich zu wie­der­ho­len, — ein fata­les Han­di­kap, ins­be­son­de­re wenn sie dem Nar­ziß ihre Lie­be geste­hen will.

    Eines Tages wird Nar­ziß auf der Jagd von sei­nen Gesel­len getrennt. Er gerät in eine son­der­ba­re Land­schaft am Heli­kon, die von der Nym­phe Echo beseelt wird. Sobald die­se den jun­gen Mann erblickt, wird sie sogleich in Lie­be erglü­hen. Aber sie kann sich nicht äußern, um ihm ihre Lie­be zu geste­hen. Also folgt sie ihm heim­lich, um ihm bei Gele­gen­heit näher zu kommen…

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    Vorlesungen und Seminare

    Heinz-Ulrich Nennen: Vorlesungen und Seminare. Wordcloud 2016.
    Heinz-Ulrich Nen­nen: Vor­le­sun­gen und Semi­na­re. Word­cloud 2016.