• Anthropologie,  Diskurs,  Emanzipation,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Lehramt,  Lehre,  Leib,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Philosophie,  Politik,  Professionalität,  Psyche,  Religion,  Seele,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    EPG II b

    EPG II b (Online und Block)

    Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

    SS 2023 | Beginn: 30. Juni 2023 | Ende: 13. August 2023 | Online und Block
    Ab 30. Juni 2023: 5 Semi­na­re online | frei­tags: 14:00–15:30 Uhr, sowie
    3 Work­shops im Block: Fr, 11.08.2023 | Sa, 12.08.2023 | So, 13.08.2023
    jeweils 14–19 Uhr | Raum: 30.91–012.
    Universe333: Yoga­Bey­ond Hon­za & Clau­di­ne Bon­di; Beach, Austra­lia 2013. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

    Zwischen den Stühlen

    Eine Rol­le zu über­neh­men bedeu­tet, sie nicht nur zu spie­len, son­dern zu sein. Wer den Leh­rer­be­ruf ergreift, steht gewis­ser­ma­ßen zwi­schen vie­len Stüh­len, einer­seits wer­den höch­ste Erwar­tun­gen gehegt, ande­rer­seits gefällt sich die Gesell­schaft in abfäl­li­gen Reden. — Das mag damit zusam­men­hän­gen, daß jede® von uns eine mehr oder min­der glück­li­che, gelun­ge­ne, viel­leicht aber eben auch trau­ma­ti­sie­ren­de Schul­erfah­rung hin­ter sich gebracht hat.

    Es sind vie­le poten­ti­el­le Kon­flikt­fel­der, die auf­kom­men kön­nen im beruf­li­chen All­tag von Leh­rern. Daß es dabei Ermes­senspiel­räu­me, Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eige­nen Idea­le mit ins Spiel zu brin­gen, soll in die­sem Semi­nar nicht nur the­ma­ti­siert, son­dern erfahr­bar gemacht werden.

    Das Selbst­ver­ständ­nis und die Pro­fes­sio­na­li­tät sind gera­de bei Leh­rern ganz ent­schei­dend dafür, ob die vie­len unter­schied­li­chen und mit­un­ter para­do­xen Anfor­de­run­gen erfolg­reich gemei­stert wer­den: Es gilt, bei Schü­lern Inter­es­se zu wecken, aber deren Lei­stun­gen auch zu bewer­ten. Dabei spie­len immer wie­der psy­cho­lo­gi­sche, sozia­le und päd­ago­gi­sche Aspek­te mit hin­ein, etwa wenn man nur an Sexua­li­tät und Puber­tät denkt. — Mit­un­ter ist es bes­ser, wenn mög­lich, lie­ber Projekt–Unterricht anzu­re­gen, wenn kaum mehr was geht.

    Es gibt klas­si­sche Kon­flikt­li­ni­en, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht sel­ten die eige­nen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hin­ein­spie­len. Aber auch inter­kul­tu­rel­le Kon­flik­te kön­nen auf­kom­men. Das alles macht neben­her auch Kom­pe­ten­zen in der Media­ti­on erfor­der­lich. — Einer­seits wird indi­vi­du­el­le För­de­rung, Enga­ge­ment, ja sogar Empa­thie erwar­tet, ande­rer­seits muß und soll gerecht bewer­tet wer­den. Das alles spielt sich ab vor dem Hin­ter­grund, daß dabei Lebens­chan­cen zuge­teilt werden.

    Gera­de in letz­ter Zeit sind gestie­ge­ne Anfor­de­run­gen bei Inklu­si­on und Inte­gra­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Auch Straf– und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men zäh­len zu den nicht eben ein­fa­chen Auf­ga­ben, die aller­dings wahr­ge­nom­men wer­den müs­sen. — Ein wei­te­rer, immer wie­der aku­ter und for­dern­der Bereich ist das Mob­bing, das sich gut ›durch­spie­len‹ läßt anhand von Inszenierungen.

    Es gibt nicht das ein­zig rich­ti­ge pro­fes­sio­nel­le Ver­hal­ten, son­dern vie­le ver­schie­de­ne Beweg­grün­de, die sich erör­tern las­sen, was denn nun in einem kon­kre­ten Fall mög­lich, ange­mes­sen oder aber kon­tra­pro­duk­tiv sein könn­te. Päd­ago­gik kann viel aber nicht alles. Bei man­chen Pro­ble­men sind ande­re Dis­zi­pli­nen sehr viel erfah­re­ner und auch zustän­dig. — Unan­ge­brach­tes Enga­ge­ment kann selbst zum Pro­blem werden. 

    Wich­tig ist ein pro­fes­sio­nel­les Selbst­ver­ständ­nis, wich­tig ist es, die eige­nen Gren­zen zu ken­nen, und mit­un­ter auch ein­fach mehr Lang­mut an den Tag zu legen. Zudem wer­den die Klas­sen immer hete­ro­ge­ner, so daß der klas­si­sche Unter­richt immer sel­te­ner wird. — Inklu­si­on, Inte­gra­ti­on oder eben Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät gehö­ren inzwi­schen zum All­tag, machen aber Schu­le, Unter­richt und Leh­rer­sein nicht eben einfacher.

    Gesell­schaft, Poli­tik, Wirt­schaft und Öffent­lich­keit set­zen zwar hohe Erwar­tun­gen in Schu­le und Leh­rer, gefal­len sich aber zugleich dar­in, den gan­zen Berufs­tand immer wie­der in ein unvor­teil­haf­tes Licht zu rücken. — Unver­ges­sen bleibt die Bemer­kung des ehe­ma­li­gen Kanz­lers Gehard Schrö­der, der ganz gene­rell die Leh­rer als fau­le Säcke bezeich­net hat.

    „Ihr wißt doch ganz genau, was das für fau­le Säcke sind.“

    Die­ses Bas­hing hat aller­dings Hin­ter­grün­de, die eben dar­in lie­gen dürf­ten, daß viel zu vie­le Schüler*innen ganz offen­bar kei­ne guten Schul­erfah­run­gen gemacht haben, wenn sie spä­ter als Eltern ihrer Kin­der wie­der die Schu­le aufsuchen.

    Ausbildung oder Bildung?

    Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grund­la­gen­stu­di­um (EPG) obli­ga­to­ri­scher Bestand­teil des Lehr­amts­stu­di­ums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modu­len, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünf­ti­ge Leh­re­rIn­nen für wis­sen­schafts– und berufs­ethi­sche Fra­gen zu sen­si­bi­li­sie­ren und sie dazu zu befä­hi­gen, sol­che Fra­gen selb­stän­dig behan­deln zu kön­nen. The­ma­ti­siert wer­den die­se Fra­gen im Modul EPG II.

    Um in allen die­sen Kon­flikt­fel­dern nicht nur zu bestehen, son­dern tat­säch­lich ange­mes­sen, pro­blem­be­wußt und mehr oder min­der geschickt zu agie­ren, braucht es zunächst ein­mal die Gewiß­heit, daß immer auch Ermes­sens– und Gestal­tungs­spiel­räu­me zur Ver­fü­gung ste­hen. Im Hin­ter­grund ste­hen Idea­le wie Bil­dung, Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit, die Erfah­rung erfül­len­der Arbeit und Erzie­hungs­zie­le, die einer huma­ni­sti­schen Päd­ago­gik ent­spre­chen, bei der es eigent­lich dar­auf ankä­me, die Schü­ler bes­ser gegen eine Gesell­schaft in Schutz zu neh­men, die immer for­dern­der auf­tritt. In die­sem Sin­ne steht auch nicht ein­fach nur Aus­bil­dung, son­dern eben Bil­dung auf dem Programm.

    Auf ein– und das­sel­be Pro­blem läßt sich unter­schied­lich reagie­ren, je nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung las­sen sich ver­schie­de­ne Lösungs­an­sät­ze ver­tre­ten. Es ist daher hilf­reich, mög­lichst vie­le ver­schie­de­ne Stel­lung­nah­men, Maß­nah­men und Ver­hal­tens­wei­sen syste­ma­tisch durch­zu­spie­len und zu erör­tern. Dann läßt sich bes­ser ein­schät­zen, wel­che davon den päd­ago­gi­schen Idea­len noch am ehe­sten gerecht werden.

    So ent­steht all­mäh­lich das Bewußt­sein, nicht ein­fach nur agie­ren und reagie­ren zu müs­sen, son­dern bewußt gestal­ten zu kön­nen. Nichts ist hilf­rei­cher als die nöti­ge Zuver­sicht, in die­sen doch sehr anspruchs­vol­len Beruf nicht nur mit Selbst­ver­trau­en ein­zu­tre­ten, son­dern auch zuver­sicht­lich blei­ben zu kön­nen. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, die Gren­zen der eige­nen Rol­le nicht nur zu sehen, son­dern auch zu wahren.

    Stichworte für Themen

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  • Anthropologie,  Diskurs,  Emanzipation,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Kunst,  Lüge,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Philosophie,  Platon,  Politik,  Psyche,  Religion,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Sprache, Macht und Hintersinn

    Am Anfang war das Wort

    Es spricht eini­ges für die mythisch moti­vier­te Spe­ku­la­ti­on, daß am Anfang und noch vor Erschaf­fung der Welt, bereits das Wort vor­han­den gewe­sen sein muß. 

    Tat­säch­lich läßt sich die Hypo­the­se nur schwer abwei­sen, daß Affen, die sich aus wel­chen Grün­den auch immer, in der Kopf set­zen, aus­zu­wan­dern aus dem Affen­pa­ra­dies, bereits über Kom­pen­sa­ti­ons­mög­lich­kei­ten ver­fü­gen muß­ten. — Wäh­rend Instink­te auf Lebens­räu­me adap­tie­ren, ist eines der Merk­ma­le für die Son­der­stel­lung des Men­schen eine spe­zi­fi­sche Umweltoffenheit.

    Phi­lo­so­phie beginnt mit Stau­nen, daher ist es ange­bracht, auch angeb­li­che Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten gene­rell in Fra­ge zu stel­len: Seit wann ver­fü­gen wir über Spra­che? War­um ›haben‹ wir eigent­lich Spra­che oder ›hat‹ die Spra­che nicht viel­mehr uns? — Was geschieht, wenn wir das Wort ergrei­fen oder auch, wenn uns Wor­te ergrei­fen? Wie ist es über­haupt mög­lich, daß wir sogar über ima­gi­nä­ren Wel­ten reden kön­nen, die nicht wirk­lich sind? 

    Es ist erstaun­lich, daß wir mit Wor­ten auch Din­ge ›reprä­sen­tie­ren‹ kön­nen, die gar nicht vor­han­den sind. Selbst wenn Vor­stel­lun­gen an sich irre­al sind, erschei­nen sie gleich­wohl im Nu vor dem inne­ren Auge. Daher wird Stau­nen in der Phi­lo­so­phie zur Metho­de. Es gilt, sich erst ein­mal vor­stel­len zu kön­nen, was wir ver­ste­hen möch­ten. Der Umgang mit dem Fik­ti­ven ist daher von ganz erheb­li­cher Bedeutung. 

    Allein die­se For­mu­lie­rung ›nicht wirk­lich‹ hat es in sich. Man könn­te fra­gen: Also was jetzt, wirk­lich oder nicht wirk­lich? Aber genau das, etwas in der Schwe­be las­sen zu kön­nen, macht Inspi­ra­ti­on erst möglich. 

    Münch­hau­sens Aben­teu­er. Post­kar­ten­se­rie nach den Lügen­ge­schich­ten des Baron Münch­hau­sen. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Banal ist das alles nicht. Spra­che als sol­che ver­ste­hen zu wol­len bedeu­tet, den Men­schen als sol­chen ver­ste­hen zu müs­sen. Denn wir sind nur, weil wir Spra­che haben und die Spra­che hat uns. Zugleich sind da näm­lich auch Gren­zen, wie Lud­wig Witt­gen­stein konstatiert:

    Die Gren­zen mei­ner Spra­che bedeu­ten die Gren­zen mei­ner Welt. (Lud­wig Witt­gen­stein: Trac­ta­tus. Satz 5.6.)

    Es ist nicht ein­fach, aus­ge­rech­net in wich­ti­gen Momen­ten, die wie­der und wie­der vor­kom­men, die rich­ti­gen Wor­te zu fin­den. — Also wird bei Witt­gen­stein süf­fi­sant anempfohlen:

    Wovon man nicht spre­chen kann, dar­über muß man schwei­gen.(Lud­wig Witt­gen­stein: Trac­ta­tus. Ebd. Satz 7.

    Wenn Adam und Eva im Para­dies den Auf­trag erhiel­ten, für alles Namen zu fin­den, dann kann das nur der Anfang gewe­sen sein. — Mensch­li­che Spra­che ist weit mehr als ein­fa­che Nomen­kla­tur , sie erzeugt gan­ze Vor­stel­lungs­wei­sen für Wirk­lich­kei­ten, Wahr­neh­mun­gen, Emp­fin­dun­gen und Sehn­süch­te. Sie kann mit Tabus auch ein­ge­schränk­te Wirk­lich­kei­ten erzeu­gen, die nicht zur Spra­che gebracht wer­den dürfen.

    Es gilt, mit den Mit­teln der Spra­che über die Gren­zen unse­res Arti­ku­la­ti­ons– und Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gens hin­aus­zu­ge­hen. — Aber das ergrif­fe­ne Wort muß getra­gen sein von einer Welt­auf­fas­sung, von Welt­an­schau­un­gen, Kul­tur, Lebens­welt, Phi­lo­so­phie, Dich­tung, Kunst und Wis­sen­schaft, anson­sten wer­den die Wor­te sang– und klang­los ein­fach nur verklingen.

    Reden über Abwesendes

    Ent­schei­dend ist, daß die Wor­te oft selbst wie Reprä­sen­tan­ten fun­gie­ren. Wo etwas tabui­siert ist, wer­den Wor­te stumm. Damit ver­schwin­den aber auch die von die­sen Wor­ten reprä­sen­tier­ten Phä­no­me­ne. Sie gera­ten außer Reich­wei­te unse­rer Wahr­neh­mun­gen und ver­schwin­den jen­seits unse­res Vor­stel­lungs­ver­mö­gens. — Man wird ohne Sank­tio­nen nicht ein­mal mehr nach ihnen fragen.

    John Col­lier (1850–1934): Col­lier: Priest­ess of Del­phi (1891). — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

    Sie sind dann nicht mehr wahr­nehm­bar und auch nicht mehr mit­teil­bar. Es sind bemer­kens­wer­te dia­lo­gi­sche und dis­kur­si­ve Anfor­de­run­gen, die wir tag­täg­lich erfül­len, um im inne­ren Thea­ter unse­res kon­sen­su­al koor­di­nier­ten Vor­stel­lungs­ver­mö­gens die Kulis­sen solan­ge zu ver­schie­ben, bis wir ein­sichts­fä­hig wer­den. — Wie anspruchs­voll die­se Kunst eigent­lich ist und wor­auf es dabei ankommt, läßt sich an einem inter­es­san­ten Bei­spiel demonstrieren:

    Fran­ci­ne Pat­ter­son, Forschungs–Direktorin der Kali­for­ni­schen Goril­la Foun­da­ti­on, hat­te in rund 25 Jah­ren ein Gorillaweib­chen namens Koko mit einer Zei­chen­spra­che im Umfang von etwa tau­send Zei­chen ver­traut gemacht, nebst eini­ger eng­li­scher Laut­wör­ter, um sich auf die­se Wei­se mit ihr ver­stän­di­gen zu können.

    Ein Inter­net­pro­vi­der insze­nier­te dar­auf­hin als Wer­be­gag die Mög­lich­keit, mit Koko via Inter­net zu kom­mu­ni­zie­ren. Die Fra­gen soll­ten in die Zei­chen­spra­che über­setzt, Kokos Ant­wor­ten von Mit­ar­bei­tern am Ter­mi­nal ins Inter­net ein­ge­ge­ben werden.

    “Der Chat begann, Tali­ka faß­te sich als erste Mut: ›Hal­lo Koko, es ist eine Ehre, dich zu tref­fen.‹ Kokos Ant­wort war erstaun­lich: ›Gut hier.‹ Und als der Mode­ra­tor die ersten Fra­gen ein­sam­mel­te, husch­te ein ent­schie­de­nes ›Koko liebt Essen!‹ über die Bild­schir­me. (…) Ob sie Vögel mag, woll­te einer wis­sen. Koko ging zum Fen­ster, schau­te hin­aus, und mein­te plötz­lich: ›Fake‹. Das kommt immer dann, wenn von Din­gen die Rede ist, die nicht hier und jetzt prä­sent sind, erklär­te Dr. Pat­ter­son.” (Die­ter Grön­ling: ›Koko liebt Essen!‹ Fra­ge­stun­de mit einem Flach­land­go­ril­la im Inter­net. In: die tages­zei­tung, 30. April 1998. S. 20.)

    Man spricht offen­bar als Gorill­ada­me nicht über Abwe­sen­des, schon gar hin­ter dem Rücken der Din­ge, über Sachen und Lebe­we­sen, die im Augen­blick nicht ›da‹ sind. — Offen­bar fehlt das Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, so daß ein Fake dekla­riert wird, wenn Sachen nicht vor­han­den sind.

    Da nun die Gram­ma­tik zustän­dig ist für die Onto­lo­gie, wird bereits im Vor­feld dar­über befun­den, ob etwas ›exi­stent‹ ist oder aber nicht. Und über Nicht–Vorhandenes zu reden, ist doch Unsinn, oder? — Es ist, als wür­de die Gram­ma­tik bei Koko strei­ken und jeden Ver­such ver­ei­teln, etwas zur Spra­che zu brin­gen, das nicht wirk­lich, son­dern nur in der Vor­stel­lung ›ist‹.

    Dabei kön­nen Ima­gi­na­tio­nen zugleich vor­han­den und nicht vor­han­den sein, näm­lich in unse­rer Phan­ta­sie, die bei Bedarf auch flie­gen­de rosa­ro­te Ele­fan­ten zur Ver­fü­gung stellt. Inso­fern haben wir es bei Koko mit einem begrenz­ten Vor­stel­lungs­ver­mö­gen zu tun; Gren­zen, die wir als Men­schen anstands­los über­schrei­ten. — Aber es ist nicht ein­fach, sich Phan­ta­sie als sol­che über­haupt vorzustellen.

    Bewußt­sein läßt sich als System beschrei­ben, das mit einer gro­ßen Viel­falt von unter­schied­li­chen Beob­ach­tungs­be­ob­ach­tun­gen ope­riert. Dabei geht es um Blick­win­kel, Per­spek­ti­ven und Dif­fe­ren­zen, die gegen­ein­an­der und mit­ein­an­der ins Ver­hält­nis oder auch in Kon­trast gesetzt wer­den. — Die­ses Beob­ach­ten von Wahr­neh­mungs­wahr­neh­mun­gen kann ad Infi­ni­tum immer kom­ple­xer wer­den, vom ein­fa­chen Bewußt­sein über das Selbst­be­wußt­sein, bis hin zum Geist.

    Dem­nach gibt es stets ein Bewußt­sein, das aus ande­rer War­te ein ande­res in sei­ner Wahr­neh­mung beob­ach­tet. Erst dadurch wird die­se Wahr­neh­mung ihrer­seits ›bewußt‹. — Ich weiß dann nicht ein­fach nur, son­dern ich weiß, daß ich etwas weiß, des­sen ich mir bewußt bin.

    Dar­in liegt einer der wesent­li­chen Unter­schie­de zu den Tie­ren: Es ist uns durch Erle­ben im eige­nen Vor­stel­lungs­ver­mö­gen mög­lich, so zu ver­fah­ren, als wären wir ›mit­ten­drin‹, inmit­ten der Ereig­nis­se. — Dabei wis­sen wir zugleich, daß alles ›nur‹ ima­gi­niert ist, daß es rei­ne Phan­ta­sie­wel­ten sind.

    Aller­dings kön­nen wir in und mit die­sen ima­gi­nä­ren Wel­ten unse­ren gei­sti­gen Hori­zont ganz beträcht­lich erwei­tern. Wir kön­nen alle erdenk­li­chen Erleb­nis­se, Erfah­run­gen und Beob­ach­tun­gen machen, die von erheb­li­cher Bedeu­tung sein können.

    Phan­ta­sie ist eine erstaun­li­che Fähig­keit, die nicht genug gewür­digt wer­den kann. Der­weil liegt die eigent­li­che Kunst dar­in, eini­ger­ma­ßen ›kon­struk­tiv‹ zu ima­gi­nie­ren, um dann mög­lichst genau dar­über zu sprechen.

    Quad­re ’L’art de la con­ver­sa’, de René Magrit­te. Expo­si­ció de Caix­afòrum a Bar­ce­lo­na, març de 2022.—Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Die­se Illu­stra­ti­on bewußt mira­ku­lös. Unschwer ist zu erken­nen: Es ist ein ‘Magrit­te’. Aber nicht die­ser ist hier das The­ma oder sein Sur­rea­lis­mus, auch die­ser steht nicht im Zen­trum. Tat­säch­lich han­delt es sich um den Aus­schnitt aus dem Kata­log einer Kunst­aus­stel­lung über René Magrit­te in Bar­ce­lo­na. Die Gemälde–Beschriftung lie­fert dazu einen siche­ren Anhalts­punkt. — Die­ses gan­ze Arran­ge­ment soll illu­strie­ren, daß wir hoch­kom­ple­xen Zusam­men­hän­ge ›lesen‹, ›inter­pre­tie­ren‹, ›deu­ten‹ und ›ver­ste­hen‹ können.

    Daher rührt aber auch eine bis heu­te nach­wir­ken­de Urangst, weil unse­re Alt­vor­de­ren auf ›fre­vel­haf­te‹ Wei­se die Auto­ri­tät der Instink­te miß­ach­tet und durch Spra­che und Ima­gi­na­ti­on die Gren­zen der tie­ri­schen Lebens­wel­ten über­tre­ten und über­wun­den haben.

    Das Ima­gi­na­ti­ons­ver­mö­gen erlaubt uns, auch Abwe­sen­des zur Spra­che zu brin­gen, als Kom­pen­sa­ti­on für die ver­lo­re­ne Instinkt­si­cher­heit. — So sind wir uns in der Vor­stel­lung selbst immer einen Schritt vor­aus, aber auch nur sel­ten ›eins mit uns selbst‹.

    So wur­den neue Mög­lich­kei­ten eröff­net, sich selbst ori­en­tie­ren zu kön­nen, etwa durch Erfah­rungs­aus­tausch und durch Wei­ter­ga­be von Wis­sen. Kul­tur wur­de als etwas völ­lig Neu­es erschaf­fen, als Gegen­welt zur Natur. — Dabei wur­den die Vor­aus­set­zun­gen geschaf­fen für ein Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, mit dem es mög­lich wur­de, sich in der gan­zen Welt selbst ori­en­tie­ren zu können.

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    Was tun, wenn ‘die’ Frau wütend ist?

    Michail Ser­ge­je­witsch Gor­bat­schow, der ehren­wer­te und letz­te Staats­prä­si­dent der Sowjet­uni­on, hat­te bekann­ter­ma­ßen ein äußerst inni­ges Ver­hält­nis zu sei­ner Frau Rais­sa Maxi­mow­na Gorbatschowa. 

    Man hat ihn spä­ter hier in Mün­ster des­öf­te­ren am Aasee spa­zie­ren gese­hen, als sei­ne Frau, übri­gens eine Phi­lo­so­phin, mit dem Krebs kämpf­te.

    Bei­de kann­ten sich lang und waren, wie es nur weni­ge Paa­re fer­tig brin­gen, wirk­lich ein Team. In ihr hat­te er eine unbe­stech­li­che Rat­ge­be­rin, so wie es Pla­ton idea­li­siert hat. Er stellt die Phi­lo­so­phen­kö­ni­ge vor wie wel­che, die ein­fach des­we­gen nicht bestech­lich sind, weil sie schon “alles” haben, was nicht mit Geld zu bezah­len ist.

    Gor­bat­schows Ver­zweif­lung über ihren Tod dürf­te nicht min­der groß gewe­sen sein, wie die ange­sichts der schier unlös­ba­ren Auf­ga­be, den Sau­ri­er Sowjet­uni­on mit einem heim­tückisch tak­tie­ren­den Westen im Nacken den­noch wie­der auf Kurs zu brin­gen. Von wegen kei­ne Ost­erwei­te­rung der NATO, von wegen “gemein­sa­mes Haus Europa”.

    Ein Putsch mach­te alle Hoff­nun­gen zunich­te und brach­te einen Trun­ken­bold wie Jel­zin ans Ruder und Olig­ar­chen, die sich das ehe­ma­li­ge Volks­ver­mö­gen unter den Nagel geris­sen haben. Im Wind­schat­ten die­ser Ver­wer­fun­gen fand Putin als Nach­fol­ger sei­nen Weg zur Macht, der das alles natür­lich als demü­ti­gen­de Kata­stro­phe emp­fun­den hat.

    Gustav Klimt: Umarmung (1909).
    Gustav Klimt: Umar­mung (1909).

    Aber nun zur Fra­ge: Was hat Gor­bat­schow gemacht, wenn Rais­sa Maxi­mow­na Gor­bat­scho­wa wütend war? Er hat es in einem Inter­view selbst aus­ge­plau­dert und für mich klang es auch ein wenig wie eine Emp­feh­lung, was denn nun männ­li­cher­seits zu tun sei in sol­chen Fäl­len, wenn “die” Frau außer sich ist vor Wut.

    Er habe sie in sei­ne Arme genom­men und fest umschlos­sen, um sie auch bei Gegen­wehr ganz nahe fest zu hal­ten, bis sich der Zorn, die Wut und die Ver­zweif­lung wie­der leg­ten. — Das scheint in der Tat hilf­reich zu sein, denn ich habe gese­hen, daß es ins­be­son­de­re bei Kin­dern und Men­schen in psy­chi­schen Aus­nah­me­zu­stän­den posi­tiv wir­ken kann, ein­fach nur “gehal­ten zu wer­den”, bis es wie­der bes­ser geht.

    Der Grund dürf­te dar­in lie­gen, daß die Wut selbst zum Aus­druck gebracht wer­den kann: Anfangs wehrt sie sich viel­leicht noch vehe­ment gegen die macht­vol­le Umklam­me­rung. Der Zorn wird also anfangs immer stär­ker, bis er selbst sein Limit erreicht hast, denn er kann ja nun aus­ge­lebt wer­den. All­mäh­lich ver­aus­gabt sich der Zorn jedoch, dann er kann den inne­ren Druck wie durch ein Ven­til ablas­sen. 

    Es mag einen ande­ren Ein­druck machen aber es ist kei­ne Gewalt, es ist eher wie der Schutz vor wei­te­ren Zor­nes­aus­brü­chen. Das wird mög­lich, weil die Wut und die mit ihr ein­her­ge­hen­de Ver­zweif­lung nun ihren Aus­druck gefun­den hat und mit­ge­teilt wer­den kann. 

    Wer zu woke ist, den bestraft das Leben

    Aber wie es in die­sen des­ori­en­tier­ten Zei­ten üblich ist, wer­den man­che ganz gewiß jetzt Zeter und Mor­dio schrei­en: Ist das nicht Gewalt gegen die Frau? — Oh je.

    Wer zu woke ist, den bestraft das Leben. — Die For­mel stammt übri­gens nicht von ihm, son­dern von einem sei­ner Spre­cher. Das geflü­gel­te Wort wur­de zum Ora­kel­spruch. Es fiel auf einem infor­mel­len Tref­fen mit Pres­se­ver­tre­tern beim Staats­be­such von “Gor­bi” in Ost­ber­lin: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

    Damit ist auch etwas dar­über gesagt, was das Leben aus­macht. Es bie­tet Gele­gen­hei­ten, die ver­tan sind, wenn sie nicht ergrif­fen wer­den. – Wir soll­ten Mög­lich­kei­ten für unse­re Sehn­süch­te dar­aus machen, die tief in uns schlum­mern, um wach­ge­küßt zu wer­den. Aber dazu braucht es Nähe, Ver­trau­en und wohl auch die Gewiß­heit, daß alles wie­der gut wer­den kann. 

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    Menschenbilder

    Für eine neue Pädagogische Anthropologie

    Die Auf­ga­ben für Lehr­kräf­te stei­gen seit Jah­ren, weil Gesell­schaft und Staat kei­ne Vor­stel­lung mehr haben, wor­auf es ankommt. — Aus Bil­dung ist Aus­bil­dung gewor­den und das vor dem unmensch­li­chen Bild einer “natür­li­chen” Aus­le­se, als leb­ten wir noch im Tierreich.

    Die Zahl der Lehr­kräf­te wird immer gerin­ger, weil es kaum noch ein belast­ba­res, posi­ti­ves Men­schen­bild gibt und Über­zeu­gun­gen, dafür auch ein­tre­ten zu kön­nen. — Und die Gesell­schaft gefällt sich dar­in, alles ein­fach nur abzuwälzen.

    Im Zuge der Corona–Krise ist deut­lich gewor­den, daß etwas faul ist mit dem mis­an­thro­pi­schen Men­schen­bild. Die Zei­ten sind vor­bei, als reli­giö­se oder poli­ti­sche Ideo­lo­gien noch die Vor­stel­lun­gen von der “Bil­dung des Men­schen­ge­schlechts” beherrsch­ten. Nur der Mis­an­thro­pis­mus ist noch geblieben.

    Aber den mie­sen Men­schen­bil­dern kann man bei­kom­men. Es gilt, eine all­ge­mei­ne Rat­lo­sig­keit, die nicht sel­ten in tie­fe Ver­zweif­lung füh­ren, durch neue Zuver­sicht zu überwinden.

    Dazu braucht es wie­der ein stand­fe­stes Auf­tre­ten von Phi­lo­so­phen, Erzie­hungs­wis­sen­schaft­le­rin­nen, Päd­ago­gen und Päd­ago­gin­nen. Aber die­se müs­sen sich erst ein­mal ihrer­seits neu über­zeu­gen von der Bedeu­tung ihres Tuns und von der Legi­ti­mi­tät ihrer Professionen.

    Zunächst ist in der Päd­ago­gik selbst ein wie­der moti­vie­ren­des Men­schen­bild erfor­der­lich. — Die Theo­rien dazu sind da. Es kommt nun dar­auf an, eine zeit­ge­mä­ße Pra­xis und ein neu­es Selbst­ver­ständ­nis auf die­sen Fun­da­men­ten zu errichten.

    Auf das Menschenbild kommt es an

    Seit Jah­ren gebe ich Semi­na­re für ange­hen­de Leh­rer und Leh­re­rin­nen am KIT in Karls­ru­he. — Aber jetzt möch­te ich nicht mehr nur exklu­siv dort wir­ken, son­dern Semi­na­re zur Super­vi­si­on, zum Atem­ho­len, Über­le­gen, Nach­den­ken und zu neu­em Mut anbie­ten. Denn mir ist immer wie­der auf­ge­fal­len: Die Moti­vation kann nur von innen kom­men, von einem Men­schen­bild, das von einer inne­ren Wär­me erfüllt ist.

    Der vitru­via­ni­sche Mensch
    Leo­nar­do da Vin­ci, ca. 1490;
    Gal­le­ria dell’ Acca­de­mia, Venedig.

    In der Theo­rie gibt es die­se Per­spek­ti­ven bereits seit 1928, als mit der Anthro­po­lo­gi­schen Wen­de die ersten Dis­kur­se auf­ka­men dar­über, wel­che wis­sen­schaft­lich gesi­cher­ten Aus­sa­gen gemacht wer­den kön­nen über das ver­meint­li­che “Wesen des Menschen”.

    Damals ent­stand die Anthro­po­lo­gie als trans­dis­zi­pli­nä­rer Dis­kurs über die “Con­di­tio huma­na”. — Inzwi­schen ist dar­aus ein beein­drucken­des Ensem­ble aus einer Viel­zahl aller erdenk­li­cher Wis­sen­schaf­ten aus Natur–, Kul­tur– und Gei­stes­wis­sen­schaf­ten geworden.

    In Zwei­fels­fäl­len kön­nen wir die­se Dis­kur­se wie ein Ora­kel anru­fen, um Fra­gen zu beant­wor­ten, deren Ant­wor­ten oft nur vor­ein­ge­nom­men sind. In sol­chen Streit­fra­gen wirkt die Anthro­po­lo­gie wie ein wis­sen­schaft­li­ches Orakel.

    Wich­tig ist nicht nur, was aus­ge­sagt wird, son­dern auch wie und auf wel­che Fra­gen wir tat­säch­lich erschöp­fen­de Ant­wor­ten erhal­ten. So läßt sich man­ches sehr klar ent­schei­den, weil es um beleg­ba­re Fak­ten und rekon­stru­ier­ba­re Zusam­men­hän­ge geht, die sich erör­tern lassen.

    Aber noch inter­es­san­ter wird es, wenn wir von der Anthro­po­lo­gie gar kei­ne oder nicht erschöp­fen­de Ant­wor­ten erhal­ten, son­dern nur noch die Aus­kunft, es wür­de ein Prin­zip zugrun­de lie­gen. So ist die Ant­wort auf die Fra­ge nach dem Wesen des Men­schen in etwa so zu beant­wor­ten, daß es dar­in liegt, sich selbst zu kul­ti­vie­ren, sich selbst zu “bil­den”. Dann wird deut­lich, wie sehr das mensch­li­che Wesen davon geprägt ist, “offen” zu sein.

    Wir sind nicht vor­de­fi­niert wie Tie­re, wir sind zur Frei­heit gebo­ren, was aber auch mit Frei­heits­schmer­zen ver­bun­den ist. — Daher brau­chen wir Men­to­ren in der Funk­ti­on von Heb­am­men, Beglei­tern und Rat­ge­be­rin­nen bereits bei den ersten Schrit­ten und auch spä­ter noch auf dem Weg in eine ganz indi­vi­du­el­le Zukunft, in der es glück­lich macht, sich selbst bei er eige­nen Ent­fal­tung über die Schul­ter zu sehen.

    Die “Unbe­stimmt­heit” des mensch­li­chen Wesens ist das, was die “Wür­de des Men­schen” aus­macht. Dar­in liegt das eigent­li­che Geheim­nis des Erfolgs in der Menschheitsgeschichte.
    Wir ste­hen auf den Schul­tern von Riesen.

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    Vom Über–Ich zum Ideal–Ich

    Narzißmus als Selbst–Konzept 

    Der Umgang mit der Figur des Nar­ziß läßt zu wün­schen übrig. Oft wer­den Dia­gno­sen vor­ge­bracht, wie sie üblich sind von Lie­ben­den, die sich ver­schmäht sehen. Dann ist auch noch von toxi­schen Bezie­hun­gen die Rede, um die Feh­ler beim Gelieb­ten zu fin­den. Aber zuletzt täuscht nichts dar­über hin­weg, daß Besitz-Ansprü­che oft als Aus­druck von Lie­be kaschiert werden. 

    Schön­heit mag erstre­bens­wert sein, zu viel davon wird aber zu einem ganz gro­ßen Pro­blem. Nar­ziß hat die­ses Han­di­kap schon seit frü­he­ster Kind­heit erlebt und daß ist der dra­ma­ti­sche Kern die­ser mythi­schen Figur. — Er ist ein­fach zu schön. 

    Er ist der­art schön, daß alle außer sich sind und ihn berüh­ren, besit­zen und sich vor allem mit ihm sehen las­sen wol­len. Aber nie­mand inter­es­siert sich für ihn als Per­son. Also beginnt er damit, sich für sich selbst zu interessieren. 

    Die­se Schwie­rig­keit hat er weder in der Kind­heit, noch in sei­ner Jugend bewäl­tigt kön­nen. Und jetzt, wo er ein jun­ger Mann ist, in den sich alle unent­wegt unsterb­lich ver­lie­ben und ihn ver­fol­gen wie einen Super­star, ist es eigent­lich zu spät. — Nar­ziß hat sich inzwi­schen eine äußerst schrof­fe Art der Zurück­wei­sung zu eigen gemacht. 

    Er wehrt Ver­lieb­te nicht ein­fach nur ab, son­dern ver­sucht sie mit hef­tig­sten Wor­ten zu ver­let­zen. Mit mög­lichst schrof­fen Reak­tio­nen schreckt er sie ab und trifft sie ganz tief ins Herz, weil er es sich selbst schul­dig ist, sie alle ein­fach nur abzu­weh­ren. — Dabei weiß er selbst gar nicht, was mit ihm ist. Er hat sich selbst nie ken­nen gelernt, weil ihm immer ande­re dazwi­schen kamen. 

    Inso­fern wird man als Außen­ste­hen­der fra­gen, ob das denn nun wah­re, ehr­li­che, ech­te Lie­be sein kann, was da an ein­neh­men­den Begehr­lich­kei­ten an den Tag gelegt wird. Er ist schließ­lich einer, der dar­un­ter lei­det, daß er an Auf­merk­sam­keit zu viel hat und nichts davon will. — Also stößt er die ihn ver­meint­lich Lie­ben­den hef­tig vor den Kopf. Er kennt sich selbst nicht, war­um soll­te er sich lie­ben las­sen? Er muß die ent­täu­schen, die ihn erklär­ter­ma­ßen lie­ben. Er will nicht geliebt wer­den, weil er Lie­be als Ver­ein­nah­mung empfindet. 

    Ein Ver­eh­rer will ihm ein Schwert schen­ken. Nar­ziß weist ihn der­art hef­tig zurück, daß die­ser die Göt­ter um Rache anfleht, bevor er sich selbst mit die­sem Schwert tötet. — Und tat­säch­lich machen es sich die Göt­ter zu eigen, den Ver­schmäh­ten in sei­ner Lie­bes­krank­heit zu rächen. 

    Die Begeg­nung mit der Nym­phe Echo ist bereits Teil des gött­li­chen Plans.— Hera hat­te ihr die Stim­me genom­men, weil die­se sie damit täu­schen woll­te, um Zeus ein Ali­bi zu ver­schaf­fen, als die­ser in Lie­bes­an­ge­le­gen­hei­ten unter­wegs war. — Echo kann also nur noch wie­der­ho­len, was bereits gesagt wor­den ist, sie kann nicht von sich aus sprechen. 

    Eines Tages ver­irrt sich Nar­ziß auf der Jagd und trifft auf die Stim­me der Nym­phe, die sich augen­blick­lich ver­liebt und schon bald vol­ler Hoff­nung auf sei­ne Gegen­lie­be ist. Ihr gan­zes Auf­tre­ten läßt an ein Grou­pie den­ken, denn sie gerät bei einer Begeg­nung mit ihrem Star völ­lig außer sich und kann noch stam­meln. — Aber sie täuscht sich, anstel­le eines Aus­drucks der Lie­be kommt nur eine schrof­fe Abwei­sung des unter sei­ner eige­nen Attrak­ti­vi­tät lei­den­den jun­gen Man­nes: Lie­ber wür­de er ster­ben, als sich von ihr auch nur umar­men zu lassen. 

    John Wil­liam Water­hou­se: Echo und Nar­cissus, 1903.

    Nun fragt man sich schon, ob so hef­ti­ge Reak­tio­nen wirk­lich not­wen­dig sind. Aber man soll­te nicht ver­ges­sen, daß Nar­ziß nichts ande­res kennt, als dau­ernd wegen sei­ner äuße­ren Vor­zü­ge begehrt zu wer­den, wäh­rend sich für ihn selbst in sei­ner Per­son nie­mand inter­es­siert. — Er hat sich in sei­ner eige­nen Per­son gar nicht ent­wickeln und ent­fal­ten kön­nen. Es wur­de ihm alles geschenkt, auf­ge­drängt, auf­ge­nö­tigt, nur weil er schön und begeh­rens­wert ist. 

    Dar­auf pas­siert, was der blin­de Seher Tere­si­as des­sen Mut­ter bereits pro­phe­zeit hat­te, als die­se wis­sen woll­te, ob er ein lan­ges und glück­li­ches Leben vor sich habe. — Solan­ge er sich selbst nicht ken­nen lernt, ja, so lau­te­te die rät­sel­haf­ten Auskunft. 

    Genau das soll­te jedoch gesche­hen. Er soll­te sich ken­nen ler­nen, weil die Göt­ter ihre Hän­de bereits im Spiel hat­ten. Er ver­lieb­te sich aber nicht ein­fach in sich selbst, das ist nur die kind­li­che Vari­an­te in der Deu­tung des Mythos. Als wür­de er den Spie­gel­test nicht bestehen und nicht ein­mal sich selbst erken­nen kön­nen. — Das Dra­ma ist tief­grün­di­ger, weil Nar­ziß offen­bar etwas tut, was “die Jugend” sei­ner­zeit erst­ma­lig zeig­te. Von einem neu­en Wahn ist die Rede, sich fort­an auf sich selbst zu kon­zen­trie­ren, aber die alten und ehren­wer­ten Sit­ten und Gebräu­che links lie­gen zu lassen. 

    Nar­ziß wei­ger­te sich, den übli­chen Weg eines jun­gen Man­nes zu gehen. Er will nicht mit einem erfah­re­nen Mann als sein Men­tor für eini­ge Zeit in die Wild­nis gehen, um dort vom Jun­gen zum Mann zu wer­den. — Denn was brauch­te es, um ein “vor­treff­li­cher Mann” zu wer­den? Doch wohl urba­ne Fähig­kei­ten wie Lesen, Schrei­ben, Reden, Ver­han­deln und Ver­trä­ge aus­han­deln kön­nen. Man braucht Erfah­run­gen in der Län­der­kun­de aber weit weni­ger sol­che in der Natur. 

    Nar­ziß beginnt also, sich nicht mehr im Äuße­ren zu suchen, son­dern im eige­nen Inne­ren. Und er trägt den Namen einer Nar­zis­se, weil auch die­se ihren Kopf so hän­gen läßt, als wäre sie ganz tief in sich selbst ver­sun­ken, um sich zu “bespie­geln”. — Damit beginnt er und hört aber auch nicht mehr auf. Der Nar­ziß­mus ist inso­fern eine Dia­gno­se, die auf die­je­ni­gen zutrifft, die aus einer sol­chen Selbst­ver­sen­kung nicht wie­der herauskommen. 

    Michel­an­ge­lo Meri­si da Cara­vag­gio: Nar­ziss, 1594ff.

    Tat­säch­lich hat die­ser tra­gi­sche Mythen­held aber erstaun­li­che Poten­tia­le, die ihn die­ser Tage zum Leit­bild einer Dia­gno­se über den Zeit­geist wer­den las­sen, die es in sich hat: Wir haben einen Para­dig­men­wech­sel zu ver­zeich­nen, der vom Über–Ich zum Ideal–Ich führt. 

    Das Über–Ich ist, der Ter­mi­no­lo­gie von Sig­mund Freud zufol­ge, eine Reprä­sen­ta­ti­on des “Vaters” im Sin­ne einer auto­ri­tä­ren Welt, in der Tra­di­ti­on und Sit­te noch ganz stren­ge Grenz­re­gime bewach­ten und sank­tio­nier­ten. Wehe denen, die da aus irgend­wel­chen Rol­len fal­len und aus der Rei­he tanz­ten! Und genau sol­che Dia­gno­sen fol­gen dann auch: Narzißmus. 

    Das Über–Ich hat mit der Figur des auto­ri­tä­ren Got­tes, Königs, Ehe­gat­ten und Vaters vor allem eine Aus­prä­gung, es ist eine uner­bitt­li­che höchst rich­ter­li­che Instanz, die anders­ar­ti­ge Iden­ti­tä­ten gar nicht erst auf­kom­men läßt. Alle erdenk­li­chen Wün­sche und Traum­ge­spin­ste sind sank­tio­niert und allein der Wunsch danach kann zu kata­stro­pha­len Selbst­be­stra­fun­gen füh­ren, die sich in unter­schied­li­chen Sym­pto­men äußern. 

    Das war solan­ge der Fall, wie Sit­ten­stren­ge und Geschlechterrollen–Erwartungen noch selbst­ver­ständ­lich zu sein schie­nen und die, die sie hat­ten, sich lie­ber selbst etwas anta­ten, als dazu auch öffent­lich zu stehen. 

    Aber eigent­lich wird die­se Geschlecht­er­ord­nung schon mit dem 1. Welt­krieg ganz erheb­lich gestört. Vie­le Män­ner zogen freu­dig in den Krieg, wie Hoo­li­gans, die sich ver­ab­re­det haben, ihre Kräf­te zu mes­sen. Aber der Krieg war inzwi­schen hoch tech­ni­siert wor­den, man lan­de­te in den Schüt­zen­grä­ben und ver­lor ganz und gar, was Män­ner bis dato noch glaub­ten für sich bean­spru­chen zu dür­fen, die­sen gewis­sen Schneid, der gern vor­ge­führt wird, dem die Uni­for­men die­nen sol­len und der angeb­lich bei Frau­en sehr gut ange­kom­men sein soll. 

    Im Grun­de war das Ende des mar­tia­li­schen Männ­lich­keits­geh­abe eigent­lich schon mit dem Ersten Welt­krieg ein­ge­läu­tet. Aber die Lek­ti­on moch­te nicht wirk­lich ver­fan­gen, also “brauch­te” es noch einen Zwei­te Welt­krieg, bis end­lich ein ande­rer Geist zuge­las­sen wur­de, der sich dann auch in der Flower–Power–Zeit mit den Hip­pies und der Love–and–Peace–Zeit ein Pop–Denkmal schuf, bis hin zum New Age, das auch eine ganz neue Art des Glau­bens legitimierte. 

    Tat­säch­lich kam es nur zum Bruch mit dem Über­kom­me­nen, aber nicht zu einem alter­na­ti­ven Weg. Das Auto­ri­tä­re war ver­pönt, das Patri­ar­cha­le wur­de immer ver­pön­ter und den­noch kam nicht wirk­lich so etwas wie eine Alter­na­ti­ve zum Über–Ich auf, das die Geschicke bis­her so restrik­tiv gelenkt und gelei­tet hatte. 

    Man soll­te sich etwas Zeit neh­men und auf sich wir­ken las­sen, was da zu dia­gno­sti­zie­ren ist über die­sen Para­dig­men­wech­sel im Zeit­geist. — Die Patri­ar­chen ste­hen schon seit gerau­mer Wei­le nicht mehr wie die Legi­ons­füh­rer in ihren Über­wa­chungs­kan­zeln, von denen sich alles über­blicken ließ. Es gibt sie noch in alten Fabri­ken, die­se Chef–Büros mit gro­ßen Fen­stern nach über­all­hin und mit Blick auf den Hof. Aber heu­te sind dort die Werk­stät­ten von Künstlern. 

    Inter­es­san­ter­wei­se wur­de ein Groß­teil der Über­wa­chung nicht nur ins Inne­re, also in die Psy­che ver­legt, son­dern auch indi­vi­dua­li­siert. Das heißt, wir haben gelernt, uns selbst zu über­wa­chen, unser eige­ner Chef zu wer­den, dau­ernd an uns zu arbei­ten, um ein ande­rer, bes­se­rer, erfolg­rei­che­rer Mensch zu wer­den und dann auch zu sein. — So erklärt sich auch, war­um die Selbst­aus­beu­tung jeder Aus­beu­tung den Rang abläuft. 

    Die “Gene­ra­ti­on Z” irrt nicht, wenn sie auch noch Zeit zum Pri­vat­le­ben für sich bean­sprucht. Aber sie täuscht sich, wenn sie meint, alles selbst unter Kon­trol­le zu haben, denn das ist mit­nich­ten der Fall. Wir sind zu unse­ren eige­nen Aus­beu­tern gewor­den und das Plan­ziel ist nicht mehr das, was sich gehört. — Es geht viel­mehr um das Erfül­len von Zie­len, die vom Ideal–Ich aus­ge­hen. Nicht weni­ge sind also bereit, sich selbst zu versklaven.

    Der Nar­ziß­mus ist eine gesell­schaft­li­che For­de­rung an jeden Ein­zel­nen: “Du mußt mehr wer­den, als du bist, du mußt zu dei­nem Ide­al wer­den.” Aller­dings ist das Prin­zip dahin­ter höchst unso­zi­al, es geht nur noch um den per­sön­li­chen Erfolg, um das Errin­gen von äußer­li­chem Sta­tus und mon­dä­ne Luxus-Sym­bo­le, wie sie die Wer­bung als Ersatz­dro­gen längst parat hält. 

    Wir sind in eine neue Pha­se der Prä­de­sti­na­ti­ons­leh­re gera­ten. Max Weber hat dar­auf sei­ne Theo­rie des Kapi­ta­lis­mus ent­wickelt, daß der Erfolg des bür­ger­li­chen Kauf­manns selbst ein Zei­chen sein soll­te dafür, von Gott aus­er­wählt wor­den zu sein, weil ja jetzt schon, im irdi­schen Leben eini­ges an Erfolg offen­sicht­lich gewor­den ist. 

    Jetzt machen sich vie­le selbst unglück­lich mit Zie­len, die nicht wirk­lich zu errei­chen sind. Und der Gott, der da die Zei­chen gibt, daß man zu den von ihm Aus­er­wähl­ten gehört, ist die nar­ziß­ti­sche Vari­an­te eines Ide­al-Ichs, dem es vor allem dar­um geht, daß die Show stimmt. 

    Der neue Para­dig­men­wech­sel in der Selbst­kon­trol­le ist einer­seits zu begrü­ßen, aber eine wirk­li­che Lösung ist er nicht. Das Unglück, nicht zu genü­gen, ist nicht wirk­lich gerin­ger, son­dern sogar sehr viel grö­ßer gewor­den. Jetzt gibt es kei­ne Aus­flüch­te mehr, nicht zu genü­gen, weil man Idea­len ent­spre­chen muß, die man bei sich selbst an den Tag legt. — Das Über–Ich wur­de abge­löst vom Ich–Ideal, das viel radi­ka­ler beschaf­fen ist, weil es kei­ne Aus­flüch­te mehr duldet.

    Es ist gar nicht so ein­fach, dem tra­gi­schen Hel­den eines klas­si­schem Mythos gerecht zu wer­den. Zur Not kommt er uns zur Hil­fe, auf daß wir uns selbst bes­ser verstehen. 

    Sie­he hier­zu: Isol­de Cha­rim: Die Qua­len des Nar­ziss­mus. Paul Zsol­nay Ver­lag, 2022.

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    ‘Habitus’ bedeutet Charakter

    Bildung braucht eine Grundlage

    Ich habe noch immer den Ein­druck, seit Beginn der Corona–Hysterie in einem Par­al­lel­uni­ver­sum gelan­det zu sein.

    Im Nach­gang ver­schie­ben sich die Bewer­tun­gen die­ser Panther–Zeit, in der man die Git­ter­stä­be der Angst–und–Moral–Republik stän­dig vor Augen hat­te. — Viel zu vie­le haben sich in die­sen Jah­ren um Kopf und Kra­gen geredet.

    Aber mei­ne Bewer­tun­gen die­ser Mas­sen­psy­cho­se ver­schie­ben sich inzwi­schen nicht mehr so stark, und ich muß zuge­ben: Das Resul­tat die­ser kol­lek­ti­ven Angst­kam­pa­gne war für mich ver­hee­rend, denn ich muß­te einen Gut­teil mei­nes Idea­lis­mus aufgeben.

    Mei­ne Ent­täu­schung über den kol­lek­ti­ven Ver­rat an Wer­ten wie Frei­heit, Tole­ranz, Mei­nungs­frei­heit, Selbst­be­stim­mung und Wür­de, hat mich zutiefst ver­stört. Das hät­te ich nicht für mög­lich gehalten!

    Aber die Panter–Zeit hat­te auch ihr Gutes, wir haben alle das Zoo­men erlernt, konn­ten ein­an­der tief in die See­le schau­en und haben gese­hen, mit wem wir es wirk­lich zu tun haben.

    Und die Dia­gno­se fällt kri­tisch aus: Den mei­sten fehlt so etwas wie Per­sön­lich­keit, was der fran­zö­si­sche Sozio­lo­ge Pierre Bour­dieu in sei­ner Theo­rie “Die fei­nen Unter­schie­de” als “Habi­tus” bezeich­net, beschrie­ben und näher aus­ge­führt hat.

    Ich hät­te es wis­sen kön­nen, weil ich ihn schon im Stu­di­um gele­sen und mir zu Her­zen genom­men hat­te. Aber ich woll­te nicht, daß der Gro­schen auch fällt, wohl aus Idea­lis­mus woll­te ich es nicht.

    Das Erzie­hungs­ziel einer “Bil­dung der Per­sön­lich­keit” ist und bleibt eli­tär, weil es um einen Habi­tus geht, den man sich auch her­aus­neh­men kön­nen muß. — Man­che neh­men sich das ein­fach her­aus, wenn und weil es ja nun mal “stan­des­ge­mäß” für sie ist.

    Ande­re ste­hen sich selbst dabei bereits auf der Lei­tung und noch ande­re, die Viel­zahl der nicht­den­ken­den Mit­men­schen, sieht das Pro­blem nicht einmal.

    “Gebt dem Volk Brot uns Spie­le”. Ja, den mei­sten Zeit­ge­nos­sen man­gelt es nicht nur an Selbst­be­wußt­sein, Selbst­be­stim­mungs– und Selbst­ori­en­tie­rungs­ver­mö­gen, sie haben auch kei­nen Zugang zu ihrem eige­nen Leib. Sie sehen nur den Kör­per, den sie dann checken, bear­bei­ten oder auch repa­rie­ren lassen.

    Der Unter­schied besteht eben, wie Hel­muth Pless­ner gesagt hat, “zwi­schen Kör­per haben und Leib sein”. — Daher las­sen sich die Vie­len auch so tief verängstigen.

    Franz von Stuck: Til­la Durieux als Cir­ce, 1931.

    Sie sehen nur ihren Kör­per und ihre Psy­che, sehen aber nicht auch den Geist, den Leib und die See­le. Sie wol­len auch nur Sex und kei­ne Ero­tik. — Ach, es ist erbärmlich.

    „Der Mensch will über den Men­schen hin­aus“, — eigent­lich ja. Man den­ke doch nur an Pla­ton und Nietz­sche, die das so ein­drucks­voll und ein­dring­lich vor Augen geführt haben.

    Aber vie­le fol­gen nicht ihrer See­le, son­dern nur den viel zu ober­fläch­li­chen Inter­es­sen einer Psy­che, die “Haben mit Sein” mit­ein­an­der ver­wech­selt. Viel zu vie­le las­sen sich bereit­wil­lig lei­ten von den ästhetisch–moralischen Kon­sum­wel­ten der angeb­lich „Schö­nen und Reichen“.

    Wenn dar­in ganz offen­bar die aller­mei­sten Zeit­ge­nos­sen ihre Lebens­zie­le sehen und sogar fin­den, dann kann ich sie nicht mehr ernst nehmen.

    Als ich vor lan­ger Zeit noch Ethik–Unterricht für Poli­zei­be­am­te an der FH für öffent­li­che Ver­wal­tung in Dort­mund gab, hat­te ich irgend­wann bereits die­ses Kon­zept für mich als Arbeits­grund­la­ge: Ich hole die Men­schen ab, wo sie ste­hen, aber ich fah­re nicht bis unter die Erde!

    Wer unter­ir­disch ist und es auch sein und blei­ben will, soll es sich wohl erge­hen las­sen in der Höh­le. Und kein Phi­lo­soph wird sie bei ihren hei­li­gen Hand­lun­gen in der Kon­sum­höl­le stören.

    Die Basis für einen eige­nen Habi­tus, so daß man selbst­ver­ständ­lich einen Men­schen ernst neh­men kann, muß sich schon jeder selbst schaf­fen. — Die See­le macht das Spiel.

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    Harry und Meghan

    Über die Sprengkraft einer Lovestory

    Der Lie­bes­gott Amor ist ein Sohn der Göt­tin der Lie­be und dem Gott des Krie­ges, also Venus und Mars. — Mythi­sche Figu­ren sind immer auch Alle­go­rien, was bedeu­tet, daß sie etwas abbil­den, was eigent­lich alle vor Augen haben, sich aber nur schwer sagen läßt. Also bringt man es auf eine die­ser Göt­ter­fi­gu­ren und hat dann auch noch einen Cha­rak­ter dazu.

    Michel­an­ge­lo Meri­si da Cara­vag­gio: Amor als Sie­ger, 1601.

    Cupi­do, wie er bei den Römern genannt wird, hat immer einen Köcher mit Pfei­len bei sich. Schnell wie der Wind, taucht er urplötz­lich auf, und nach der Tat ist er eben­so schnell auch schon wie­der weg.

    Er ist ein Hecken­schüt­ze, so daß sei­ne Opfer, ob sie wol­len oder nicht, in Lie­be ent­flam­men. Dabei schießt er mit zwei­er­lei Pfei­len, mit gol­de­nen– für die erwi­der­te, mit blei­er­nen Pfei­len für die uner­wi­der­te Liebe.

    Man soll­te dabei an den lächer­li­chen Pro­fes­sor Unrath den­ken, aus Hein­rich Manns “Blau­em Engel” und den Film, in dem Mar­le­ne Diet­rich die Rol­le ihres Lebens fand.

    Am Ende wird der Pro­fes­sor sich nütz­lich machen, um der von ihm Ange­be­te­ten feschen Lola nahe zu sein, sich aber voll­kom­men lächer­lich machen. Es ist der Absturz einer aller­dings des­po­ti­schen Auto­ri­tät, was die ehe­ma­li­gen Schü­ler im Publi­kum mit ober­fläch­li­chem Gau­di gou­tie­ren, ohne das doch auch Tra­gi­sche dar­an über­haupt zu bemerken.

    Alle Details einer Alle­go­rie sind nicht zufäl­lig, son­dern mit bedacht gewählt und kom­po­niert. — Amor ist noch ein rechts–unmündiges Kind, was bedeu­tet, daß er nicht zur Ver­ant­wor­tung gezo­gen wer­den kann für das, was er anrich­tet. Es soll­te sich also bit­te hin­ter­her nie­mand bekla­gen, der nun ein­mal in Lie­be ent­brannt ist und dann wer weiß was gemacht hat…

    Als leicht beklei­de­te Kna­be ist Amor stets mit Laus­bu­ben­ge­sicht unter­wegs. Cara­vag­gio macht dann mit guten Grün­den ein Sie­ger­lä­cheln dar­aus. — Ja, die Lie­be siegt gewis­ser­ma­ßen immer, selbst wenn sie unglück­lich ver­läuft und schluß­end­lich alles in Schutt und Asche liegt.

    Wenn Amor mit einem sei­ner Pfei­le trifft, dann wer­den die Getrof­fe­nen nicht nur von einer Lie­be ergrif­fen, der sie sich nicht erweh­ren kön­nen, son­dern sie haben dann auch die damit ein­her­ge­hen­den Pro­blem am Hals. — Die Alle­go­rie die­ses kind­li­chen Got­tes bringt daher vor­züg­lich auf den Punkt, was die Lie­be gesell­schaft­lich eigent­lich ist: Pure Anarchie!

    Des­we­gen wird oft nichts dem Zufall über­las­sen, wobei viel Wert gelegt wird auf “stan­des­ge­mä­ße” Hoch­zei­ten etc. pp. — Des­we­gen wird Sex, von “frei­er Lie­be” ganz zu schwei­gen, ver­folgt wie die Pest. Dabei ist die Ero­tik selbst eigent­lich weni­ger das Pro­blem, aber die Lie­be, die dar­über auf­kommt, kann Ver­bin­dun­gen stif­ten, die nie und nim­mer hät­ten sein dürfen.

    Lie­be mag immer auch ein Anfang sein, ins­be­son­de­re für die Lie­bes­paa­re selbst, aber für Gemein­schaf­ten ist sie womög­lich das Ende eines lan­gen Burg­frie­dens. — Und genau das pas­siert immer wie­der, etwa bei Romeo und Julia, die sich als Abkömm­lin­ge zutiefst ver­fein­de­ter Clans inein­an­der ver­lie­ben, was daher ein böses Ende neh­men muß.

    Arche­ty­pi­sche Lieb­ha­ber Romeo und Julia por­trä­tiert von Frank Dick­see (1884).

    Gestif­tet wer­den sol­che Ver­bin­dun­gen also durch einen ver­ant­wor­tungs­lo­sen Hecken­schüt­zen, der Lie­bes­pfei­le ver­schießt und sich sonst kaum etwas dabei denkt. — So wie er drein­blickt, wirkt es eher, als wäre Lie­be nichts wei­ter als ein necki­sches Spiel.

    Das Sym­po­si­on von Pla­ton ist die­sem Eros, also dem Gott der Lie­be gewid­met. Der Text ist einer der wich­tig­sten der Mensch­heits­ge­schich­te, weil er so tief blicken läßt, nicht nur in die Lie­be selbst, son­dern auch in die Machen­schaf­ten, die sich dar­um her­um ran­ken. — Dazu gehört ins­be­son­de­re die Ver­ein­nah­mung Pla­tons durch Reli­gi­ons­füh­rer, die ernst­haft glau­ben machen wol­len, Pla­ton habe nur die nicht–erotische Lie­be geadelt und alle ande­ren For­men herabgewürdigt.

    Genau das ist nicht der Fall. Wie so oft fin­det sich bei Pla­ton auch in die­ser Ange­le­gen­heit wie­der das Bild von Stu­fen, die man schritt­wei­se neh­men soll­te, um dann mög­lichst unter Füh­rung der Phi­lo­so­phie, um zur Wahr­heit wie im Höh­len­gleich­nis oder zur Schön­heit wie im Sym­po­si­on auf­zu­stei­gen. — Daher steht auch das Gegen­teil von dem im Text, was die Reli­gi­ons­für­sten in ihrem Gries­gram und nicht sel­ten ohne Dop­pel­mo­ral seit Jahr­tau­sen­den verkünden.

    Wenn Sokra­tes in sei­ner Rede aus­gie­big von sei­ner legen­dä­ren Leh­re­rin namens Diot­ima erzählt und deren Phi­lo­so­phie der Lie­be sich offen­bar selbst zu eigen gemacht hat, dann hören wir das Gegen­teil von dem, was die Kir­chen so vehe­ment for­dern. — Tat­säch­lich ist Lie­be wie eine Dro­ge mit Neben­wir­kun­gen, die einen “hei­li­gen Wahn” aus­lö­sen. Das dürf­te dann auch das Motiv sein, war­um so vie­le Reli­gio­nen die Lie­be als sol­che ver­drän­gen, weil sie das Hei­li­ge ganz für sich und die eige­ne Insti­tu­ti­on allein bean­spru­chen wollen.

    Die­ser Dia­log beginnt wie ein jeder sokra­ti­scher Dia­log, nur dies­mal mit ver­tausch­ten Rol­len. Eigent­lich ist Sokra­tes immer der Held, der über stei­le The­sen, die kol­la­bie­ren müs­sen, wie sodann auch über sei­ne Gesprächs­part­ner lacht. Nun aber ist er in nicht in die­ser Posi­ti­on, son­dern sei­ne Gesprächs­part­ne­rin. Sie weiß ein­fach mehr, als der offen­bar noch jun­ge Sokra­tes, der ihr dann auch folgt in die­sem Dialog.

    Es beginnt sogleich mit einer höchst spek­ta­ku­lä­ren dia­lek­ti­schen Figur: Der Gott der Lie­be kön­nen gar kein Gott sein, weil er nicht wie die­se voll­kom­men ist, son­dern statt­des­sen mit einem fei­nen Gespür aus­ge­stat­tet sei für das, was ihm fehlt. — Lie­be zielt dem­nach auf die Attrak­ti­on des­sen, was fehlt und daher so anzie­hend ist.

    Daher sei der Lie­bes­gott auch kein Gott, son­dern nur ein Dämon, der übri­gens einer bei­gesteu­er­ten Erzäh­lung zufol­ge aus einer selbst mär­chen­haf­ten Ver­bin­dung zwi­schen Fül­le und Armut ent­stan­den sein soll.

    Dar­in stalkt die Armut den Reich­tum ganz gezielt am Ort einer opu­len­ten Festi­vi­tät. Sie hält sich bedeckt, bis der Rei­che höchst berauscht ins Freie tritt und unter einem Baum sei­nen Rausch aus­schläft. In die­ser Situa­ti­on macht sich die Armut an ihm so zu schaf­fen, daß sie Sex mit ihm hat, schwan­ger wird und den Eros gebiert. — Es ist berückend, wie lyrisch sich Mythen mit­un­ter geben können.

    Das Lie­bes­gift in den Pfei­len des Amor ist über­wäl­ti­gend. Da steht dann nicht sel­ten schon bald alles auf dem Spiel, und genau das ist das Anar­chi­sche und so oft Skan­da­li­sier­te an der Lie­be. — Man­che beherr­schen sich und ver­leug­nen die Lie­be aus vie­ler­lei Rück­sicht, aber man­che haben viel­leicht noch eine Rech­nung offen.

    Genau das steht im Hin­ter­grund der aktu­el­len Legen­den­bil­dung um Har­ry und Meg­han, ange­sichts einer Net­flix Serie über ihre Lie­bes– und Lei­dens­ge­schich­te. — Die­se Lie­be steht defi­ni­tiv unter dem Zei­chen der Tra­gö­die um Dia­na. Und die Trau­ma­ti­sie­rung des jun­gen Har­ry sei­ner­zeit durch den Tod sei­ner Mut­ter, ist das eigent­li­che Motiv der Handlung.

    Har­ry setzt Meg­han sei­ner Mut­ter gleich und rächt sich nun­mehr an allen, die sie sei­ner­zeit in den Tod getrie­ben haben. Als wäre er es ihr und sich selbst schul­dig, end­lich erwach­sen gewor­den, end­lich mit allen abrech­nen zu können.

    Psy­cho­lo­gisch ist die­ses Manö­ver übri­gens aus­ge­spro­chen hei­kel. Es ist näm­lich die Fra­ge, ob Meg­han eigent­lich sie selbst sein darf, ob sie nicht viel­mehr in die­ser Pro­jek­ti­ons­ar­beit völ­lig mar­gi­na­li­siert wird, was sich spä­ter ein­mal rächen dürf­te. Wer ist schon gern auf Dau­er nur ein Stellvertreter.

    Aber etwas ande­res geschieht zugleich. — Es ist eine fäl­li­ge Gene­ral­ab­rech­nung mit dem Bri­ti­schen Königs­haus und dem laten­ten Ras­sis­mus im Empire, das schon lang kei­nes mehr ist. Ohne­hin stehts das Ver­ei­nig­tes König­reich seit dem Brexit ohne­hin nicht mehr auf siche­ren Säulen.

    Da sieht man, wie sehr die freie Part­ner­wahl aus Grün­den der Lie­be dazu ange­tan ist, Pro­ble­me anzu­zei­gen, die schon immer rou­ti­niert über­spielt wor­den sind. Das ist der Anar­chis­mus der Lie­be, plötz­lich ver­fängt vie­les nicht mehr. 

    Irgend­wer fängt aus uner­find­li­chen Grün­den plötz­lich damit an, öffent­lich zu bekun­den, daß sich ein Ele­fant im Raum befin­det, über den nie­mand wil­lens ist, auch nur ein Wort zu ver­lie­ren. Das war auch Com­mon Sen­se bis­her. Aber jetzt ist der Ele­fant nun ein­mal erwähnt… 

    Wie sag­te noch der in Wor­ten stets spar­sa­me Kon­rad Ade­nau­er: “Die Situa­ti­on ist da!”

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    Alice Schwarzer zum achtzigsten Geburtstag

    Eine schon lang fällige Glosse

    Für Fried­rich Kaulbach

    Als Mann, nun­mehr aber auch Phi­lo­soph, möch­te ich end­lich die Gele­gen­heit ergrei­fen, die­ser Dame den Spie­gel vor­zu­hal­ten. Sie hat näm­lich ein­fach nur ihr Ding gemacht.

    Es ist mir rich­tig schlecht ergan­gen in der wich­tig­sten Zeit mei­nes Lebens, als noch alles offen war und man sich oft nicht zu erweh­ren wuß­te, gegen alle die­se Anwür­fe. Sie hat über Jahr­zehn­te die Dis­kurs­kon­trol­le an sich geris­sen und viel zu vie­le folg­ten ihr blind.

    Wil­liam Adol­phe Bou­gue­reau: Ore­stes wird von Furi­en gehetzt, 1862.

    Die­ser Geschlech­ter­kampf wur­de dra­ma­tisch und vor allem ago­nal insze­niert. Nein, es muß­te nicht end­lich ein­mal gesagt wer­den, was zu sagen war. Das wäre ohne­hin gekom­men, ein­fach weil es nach dem Krieg auf der Agen­da stand.

    Dabei hät­te ich so gern mit den Frau­en gemein­sa­me Sache gemacht. — Noch heu­te erin­nern mich die Schil­der vor den Flei­sche­rei­en mit den klei­nen Hun­den, die lei­der nicht hin­ein­dür­fen, an die dama­li­ge Gepflo­gen­heit, Män­ner aus­zu­gren­zen, wo Frau­en ihre Weib­lich­keit wie eine Mon­stranz vor sich hertrugen.

    Der Schwarzer–Feminismus ist ein Revan­chis­mus, der Män­ner zu Tätern gemacht hat, ein­fach nur, weil uns ein Stück­chen am Y–Chromosom fehlt. Man kann das als Dege­ne­ra­ti­on deu­ten, man kann aber auch zu bemer­kens­wer­ten Spe­ku­la­tio­nen grei­fen dar­über, ob “die Natur” nicht womög­lich tat­säch­lich die Frau­en auf dem Schirm hat, wenn es um den weib­li­chen Orgas­mus geht.

    Das ist eine inter­es­san­te Spe­ku­la­ti­on, die der idea­li­sti­sche Phi­lo­soph Fried­rich Wil­helm Joseph Schel­ling in die Welt gesetzt hat, eine etwas wun­der­li­che Spe­ku­la­ti­on, die aber natur­ge­schicht­lich gar nicht ganz so abwe­gig erscheint. Wenn wir den Anfang des Lebens im Tüm­pel betrach­ten, dann kle­ben die Weib­chen ihre Eier an einen Strauch und die Männ­chen kämp­fen um die Gele­gen­heit, ihren Samen dar­über zu sprit­zen. — Da fragt man sich schon, wo und wie denn die Lust her­kom­men soll, beim anony­men Sex.

    Dann wur­den die Ver­hält­nis­se in die­sem Ur–Tümpel nach innen ver­legt, als die Gebär­mut­ter ent­wickelt wur­de. Und die Männ­chen beka­men einen Penis, um mög­lichst nahe her­an­zu­kom­men an die Eizel­le, die den Sper­mi­en durch einen Mai­glöck­chen­duft den rich­ti­gen Weg weist. — Dem­nach sind Frau­en ein­fach näher dran, denn das Maxi­mum der Lust­erfah­rung fin­det in ihrem eige­nen Inne­ren statt und Män­ner sind dabei eher außen vor. Das wie­der­um läßt an den blin­den Seher The­re­si­as den­ken, der 9 Mona­te als Frau gelebt hat, um zu bekun­den, die Frau habe das 9–fache der Lust im Ver­hält­nis zum Mann.

    Auch das läßt sich nach­voll­zie­hen. Frau­en brau­chen eben die stär­ke­re Moti­va­ti­on, weil sie auch mehr ris­kie­ren im Ver­hält­nis zum Mann, näm­lich Frei­heit, Gesund­heit, Leben und auch die sozia­le Stel­lung. — Und in der Tat wur­de die “Schwä­che” von Frau­en als Müt­ter, die ein Klein­kind zu ver­sor­gen haben, immer wie­der von Gesell­schaf­ten scham­los ausgenutzt.

    Aber bei alle­dem hat die Schwarzer–Welt einen ganz ein­fa­chen Schwarz–Weiß–Code. Män­ner sind dem­zu­fol­ge in Wirk­lich­keit, als was Frau­en schon immer gese­hen wur­den: min­der­wer­tig. Und seit­her gel­ten Män­ner als brand­ge­fähr­lich. — Wäh­rend Frau­en ihr Schick­sal zum Opfer­sein kaum abweh­ren kön­nen, wird das Mann–Sein selt­sam wider­sin­nig dargestellt.

    “Der” Mann hat halt die fal­sche Natur und kann des­we­gen nicht ein­mal sicher sein vor sich selbst, denn das Trieb– und Täter­haf­te ist angeb­lich bio­lo­gisch ganz tief in ihm ange­legt. — Empa­thie wird exklu­siv nur Frau­en zuge­schrie­ben. Sen­si­bi­li­tät steht im Schwarzer–Feminismus den Män­ner ein­fach nicht zu, weil sie nichts wei­ter sind als ent­ar­te­te Frauen.

    Ich bin sei­ner­zeit nicht in Män­ner­grup­pen gegan­gen, obwohl ich ver­ste­hen kann, daß es eini­ge getan haben. Ich habe mich auch nicht als Emanzipations–Couch ange­dient, um dann Sex zu erbet­teln. Auch bin ich nicht zum Frauen–Versteher oder zum Sof­tie gewor­den. Mir war das alles zu wür­de­los, also habe ich mei­ne Männ­lich­keit lie­ben gelernt. — Wie heißt doch der Werbe–Spruch einer ein­schlä­gi­gen Indu­strie: Beton, es kommt dar­auf an, was man damit macht!

    Aber die Trau­ma­ti­sie­run­gen waren wohl plat­ziert. Ich konn­te Mit–Männer beob­ach­ten, die des nachts hin­ter einer Frau her­lie­fen, um ihr zu bekun­den, daß man ihr wirk­lich nichts wür­de antun wol­len. — Und dann die­se unsäg­li­chen Bemer­kun­gen: Sag­te doch eine die­ser so schreck­lich ober­fläch­lich eman­zi­pier­ten Frau­en zur ande­ren, als ich ihnen beim Ein­tritt zu einer Alumni–Feier im Overberg–Kolleg den Vor­tritt ließ und die Tür auf­hielt: Also das soll­ten man als Frau immer mitnehmen…

    Ich habe bei­zei­ten das Gedan­ken­le­sen ent­wickelt und kann mühe­los in sol­chen Situa­tio­nen den unaus­ge­spro­che­nen Satz wei­ter fort­füh­ren, bis hin zum imper­ti­nen­ten Rest: Anson­sten müs­se frau die Män­ner klein machen und auch so hal­ten. — Das Gan­ze war ja so sicher, weil es die Rache­göt­tin Ali­ce so und nicht anders ver­ord­net hat­te in ihrer gar nicht gött­li­chen Weis­heit. Sel­ber­den­ken war schon immer etwas, was die mei­sten sich nicht zumu­ten moch­ten, gera­de Frau­en nicht.

    Ich bin Phi­lo­soph gewor­den, aber so etwas braucht sei­ne Zeit. Anfangs ist es eher so, daß man ein­fach alles ernst nimmt, auch den größ­ten Unfug, weil man ja nun selbst urtei­len ler­nen will. — Also habe ich mich rich­tig ein­ma­chen las­sen von geist­lo­sen Men­schIn­nen, die ihr Ver­gnü­gen dabei hat­ten, irgend­wel­che Rache­ge­lü­ste an mir zu exekutieren.

    Phi­lo­so­phie macht erst ein­mal schwach, weil man gar nichts mehr sicher weiß, wenn alles mög­lich sein könn­te, was denn nun noch gel­ten darf. Aber es ist unethisch, die Schwä­che ande­rer aus­zu­nut­zen und nicht dafür zu sor­gen, daß sie auf Augen­hö­he sind. — Im Zwei­fels­fall gibt man ihnen bes­se­re Argu­men­te ein­fach selbst zur Hand. Das ist kein Groß­mut, das ist nicht gön­ner­haft, son­dern ein­fach nur mensch­lich. Es ist eben kei­ne Demü­ti­gung, man will doch, daß das Gegen­über ein eben­sol­ches ist und auch blei­ben soll.

    Das wäre Kon­zi­li­anz und wah­re gei­sti­ge Grö­ße, alles ande­re ist ein­fach nur banau­sen­haft. — Aber in der Welt von Ali­ce Schwar­zer, die die­sen uner­bitt­li­chen Geschlech­ter­kampf in Sze­ne gesetzt hat, war das natür­lich ver­pönt. Und alle ihre Vesta­lin­nen taten, was der Furie ein Wohl­ge­fal­len war.

    Ich erin­ne­re mich noch mit Schau­dern dar­an, wie sich die­ser Schwarzer–Feminismus all­mäh­lich das For­mat von Ras­sis­mus zuge­legt hat. Da wur­de näm­lich die natür­li­che Bös­ar­tig­keit “des” Man­nes ein­fach unter­stellt. — Wer da noch in der Iden­ti­täts­fin­dung war, konn­te glatt von die­sen Bull­do­ze­rIn­nen über­fah­ren wer­den. Par­don wur­de nicht gege­ben, um den unse­li­gen deut­schen Kai­ser zu zitieren.

    Zwei Rache­göt­tin­nen
    (Zeich­nung aus dem 19. Jahr­hun­dert nach einer anti­ken Vase)

    Ich erin­ne­re mich mit Ent­set­zen an die Dog­ma­tik nach Schwar­zers Gusto, daß angeb­lich in jedem Mann ein Gewalt­tä­ter, ein Ver­ge­wal­ti­ger und zuletzt auch ein Kin­der­schän­der “natür­lich” mit ange­legt sein soll. — Män­ner waren als sol­che eine Gefahr, denn sie könn­ten jeder­zeit sehen­den Auges außer Kon­trol­le zu gera­ten, weil sie eben ein­fach die­se mie­se männ­li­che Natur haben. Das sind Men­schen­bil­der aus den 50er Jah­ren, in denen das Wort vom “Trieb” jede Psy­cho­lo­gie ersetzt, weil danach gleich das Wort “Täter” kam.

    Das­sel­be Argu­men­ta­ti­ons­prin­zip habe ich neu­lich mit Ent­set­zen in einem mei­ner Semi­na­re wie­der erlebt: Wir müß­ten als ‘Wei­ße’ alle Schuld auf uns neh­men, weiß zu sein. Das sag­te ein Stu­dent, der Leh­rer wer­den will, über Inter­kul­tu­rel­le Gerech­tig­keit. — Ich habe gesagt: Das ste­hen Sie nicht durch. Sie über­neh­men sich, das kön­nen Sie gar nicht bewäl­ti­gen! Sie kön­nen es nur für sich selbst anders machen.

    Die Aus­wüch­se im Geschlech­ter­krieg waren irre: Es gab doch tat­säch­lich Män­ner, die fle­hent­lich um sich blick­ten, wenn sie mit einem Klein­kind zu tun beka­men. Es könn­te sich ja die böse Natur im unge­zähm­ten Inne­ren des Man­nes wider Wil­len los­ma­chen und außer Kon­trol­le gera­ten. — Sol­che Men­schen­bil­der sind selbst the­ra­pie­be­dürf­tig. Aber Ali­ce Schwar­zer hat jede Gele­gen­heit genutzt, die­se Wel­le, die sie selbst erzeugt hat, mit Won­ne und Zor­nes­rö­te zu Tode zu rei­ten. Die Moti­ve dafür lie­gen im Krieg, der nur mit ande­ren Mit­teln als Geschlech­ter­krieg fort­ge­setzt wurde. 

    Ich wäre damals nur zu gern mit den ersten Freun­din­nen, Lieb­schaf­ten und Selbst­su­che­rin­nen ins Ein­ver­neh­men gekom­men: Eman­zi­pierst Du mich, eman­zi­pie­re ich Dich! Wir wuß­ten doch alle gar nicht, wohin die Rei­se hin­ge­hen soll. Nur weg, aber wohin? — Sol­che Part­ner­schaf­ten wären aber Kol­la­bo­ra­ti­on mit dem Feind gewe­sen. Wie­viel Drit­tes Reich steckt eigent­lich noch immer hin­ter alledem?

    Erzählt wird von einer Bege­ben­heit, daß die jun­ge Ali­ce Schwar­zer in Paris mit Jean Paul Sart­re zum Inter­view ver­ab­re­det war. Und ja, die­ses unde­fi­nier­ba­re Ver­hält­nis zwi­schen den bei­den öffent­li­chen Intel­lek­tu­el­len wirk­te äußerst vor­bild­lich. — Aber ich fand das alles etwas suspekt. Was wur­de da eigent­lich ver­herr­licht? Sie führ­ten eben ein öffent­li­ches Leben und ich den­ke, daß vie­les ein­fach nur Insze­nie­rung war.

    Jeden­falls soll mit­ten­drin Simo­ne de Beau­voir plötz­lich ins Zim­mer gepol­tert sein, habe die Inter­viewe­rin abschät­zig ange­schaut und sei dann augen­blick­lich wie­der ver­schwun­den. — Und Ali­ce Schwar­zer, wie sie spä­ter zu Pro­to­koll geben wird, habe sich damals ob der übli­chen Kür­ze ihres Mini­rocks der­art geschämt…

    Die Tech­nik, die Sie im “Klei­nen Unter­schied” ein­setzt, war damals üblich und effekt­ha­schend. Das war auch in der angeb­lich wirk­lich wahr­haf­ten Arbei­ter­li­te­ra­tur so, mit denen jun­ge Leh­rer ihre Schü­ler trak­tier­ten, um sie auf dem Wege zur rich­ti­gen Ideo­lo­gie zu brin­gen, um ein bes­se­rer Mensch zu wer­den. — Ach die vie­len fal­schen Propheten…

    Was ler­nen wir dar­aus, gar nichts! Ich sit­ze gera­de auf dem Flug­ha­fen von Tene­rif­fa und mag die­se weib­li­chen Frau­en hier. Selbst­ver­ständ­lich machen sie alles mög­li­che, aber hier muß nicht dau­ernd her­vor­ge­ho­ben wer­den, daß sie ja eigent­lich ein Han­di­kap haben, näm­lich eine Frau zu sein und trotz­dem Bus­fah­re­rin. — Vor allem sind sie alle­samt immer eine Erschei­nung. Ich den­ke dann immer, daß wir das in Deutsch­land nicht haben, liegt eben am dau­er­haf­ten Krampf in der Geschlechterfrage.

    Es gab damals nicht ein­mal ein Wort für Fakes, weil man noch alles geglaubt hat, was gedruckt wur­de. Also muß­te, was in angeb­li­chen Inter­views, anfangs mit Arbei­tern dar­ge­stellt wur­de, doch auch der Lebens­wirk­lich­keit von Frau­en ent­spre­chen. Man kann ja nun in die­se Inter­views mit “den” Frau­en wer weiß was hin­ein­schrei­ben. — Und bei Ali­ce Schwar­zer ging es immer gegen die Ker­le. Sie wur­den in die­sem Geschlech­ter­krieg syste­ma­tisch in die Defen­si­ve getrie­ben, mit ihren scheuß­li­chen Ange­wohn­hei­ten aus Pene­tra­ti­ons­wut, Bru­ta­li­tät, Orgasm–Gap und grob­schlech­ti­gem Unmenschentum.

    Was mich damals schon gestört hat, weiß ich aller­dings inzwi­schen zu ver­tre­ten. Der “Päd­ago­gi­sche Eros” ist auch wie­der so ein Wort, das nach dem nun wirk­lich nicht aus­ge­präg­ten Sprach­ge­fühl von woken Pam­phle­ti­sten heu­te viel­leicht über­haupt nicht mehr benutzt wer­den darf, ist eine hei­li­ge Sache, aus Grün­den der Päd­ago­gik! — Nur das, was von innen her kommt, was aus eige­ner Ein­sicht, also intrin­sisch einen Pro­zeß der Selbst­ver­än­de­rung moti­viert, um tat­säch­lich ein ande­rer Mensch zu wer­den, ist ein­zig, was zählt.

    Ali­ce Schwar­zer hat die Dis­kur­se über Eman­zi­pa­ti­on geka­pert und dar­aus ihr Ding gemacht. Dabei stand die­se Aus­ein­an­der­set­zung ohne­hin auf der Tages­ord­nung. Die bei­den Krie­ge hat­te bewie­sen, wohin das alles führt, ein­fach nur in den Tod, ins Leid, in die Ver­zweif­lung und lebens­lan­ge Trau­ma­ta. Die mei­sten Kriegs­heim­keh­rer hat­ten Din­ge gese­hen, die kein Mensch sehen sollte.

    Aber auch die Gurus in den 70ern waren eine Pla­ge, weil sie zwar Glau­bens­sät­ze ver­kün­de­ten, aber kei­ne Anlei­tung zum Selbst­den­ken gaben. — Oppor­tu­ni­sten oder sol­che, die nur ihr Süpp­chen kochen woll­ten, haben es immer leich­ter als die, die alles selbst in Erfah­rung brin­gen, sich selbst über­zeu­gen und aus eige­ner Ein­sicht han­deln wollen.

    Ali­ce Schwar­zer hat aller­dings nicht nur Män­nern gescha­det, son­dern vor allem den Frau­en. “Was zie­he ich nur heu­te Abend zur Frau­en­grup­pe an”, das war ein star­kes Pro­blem sei­ner­zeit. — Die Kon­trol­le und Obser­vanz, der gering­schät­zi­ge Blick auf den Toi­let­ten, der miß­bil­li­gen­de Neid von Frau­en unter­ein­an­der, die bei aller Betu­lich­keit immer eher im Ver­drän­gungs­wett­be­werb unter­ein­an­der ste­hen, wur­de als Ver­hal­ten eben nicht über­wun­den. — Da lobe ich mir das Fair­play unter Män­nern, die ihre Aus­ein­an­der­set­zun­gen füh­ren, so daß es gut ist. Und im Unter­schied zur Rach­sucht unter Frau­en ist unter Män­ner vor allem eines völ­lig ver­pönt: Nachtreten.

    Ein­ge­übt wur­de wie­der nur weib­li­che Unter­ord­nung, nun­mehr beim Eman­zi­pie­ren nach zer­ti­fi­zier­ter Schwarzer–Methode. Alles ist, bleibt und blieb also immer nur das­sel­be. Wie schreck­lich. — Aber das war mal wie­der typisch.

    Es kam nicht dar­auf an, wer man/frau ist, wie frau/man sich gera­de fühlt und wor­auf es ankommt, son­dern ein­zig auf Anpas­sung und Duck­mäus­chen­tum kam es an. — Und unser­eins durf­te als Mann natür­lich nichts dazu sagen, von wegen Feind hört mit! Dage­gen hat­te der soeben erwa­chen­de Intel­lekt sich inzwi­schen schon ein paar Navi­ga­ti­ons­mit­tel zuge­legt. Ich plau­de­re ja nur zu gern aus, was ich gefun­den habe, das alles soll doch Men­schen stark machen, so daß sie über sich hin­aus­wach­sen können.

    Ich habe das ent­waff­nen­de Argu­ment zum ersten Mal von einem Kol­le­gen auf einer Tagung in Mann­heim gehört. Es stammt von einem Sozio­lo­gen, der nament­lich nicht genannt wer­den will und wohl im Osten der Repu­blik auf Braut­schau gegan­gen war. Er hob unge­fragt, wohl weil er ein Bedürf­nis ver­spür­te, durch sein Bekennt­nis end­lich Stel­lung zu bezie­hen, mit Ver­ve her­vor, daß die Frau­en im Osten ganz anders wären, als die im Westen, denn die­se wären doch eigent­lich nur Zicken.

    Sor­ry, da ist etwas dran! Vie­le Frau­en haben bei ihrer Eman­zi­pa­ti­on bequem­lich­keits­hal­ber eine Abkür­zung genom­men und sich von Frau Schwar­zer anlei­ten las­sen. Aber es kommt noch bes­ser: Ich muß geste­hen, daß ich die berühmt–berüchtigte klamm­heim­li­che Freu­de nicht ver­heh­len kann, wenn ich inzwi­schen die­sel­be Aus­sa­ge vor allem von Frau­en hören, die aus ande­ren Län­dern stam­men. — Übri­gens, es müs­sen gar nicht gelern­te Ossi–Frauen sein, das “ver­erbt” sich ein­fach so durch das geleb­te Leben an die Töch­ter. Gut so!

    Kunst­stück, bei ihren Müt­tern haben die Töch­ter im Westen immer die­ses Hin und Her des Lamen­tie­rens erlebt. Die­ser andau­ern­de Kampf für und gegen die Män­ner und dann der Dau­er­frust. — Frau will viel, kann sich aber nicht über­win­den, end­lich auch mal damit anzufangen.

    Und alles liegt an den Män­nern, die den Frau­en dann ersatz­hal­ber das Ate­lier finan­zie­ren, damit sie wenig­stens auf Kunst machen kön­nen. Aber glück­lich wird das alles nicht. — Die­sen Keil hat Ali­ce Schwar­zer in die See­len hete­ro­se­xu­el­ler Frau­en getrie­ben, zwi­schen Frau­en und Män­ner, vor allem aber mit­ten durch das Weib­li­che hindurch.

    Es gab eini­ge Kri­ti­ke­rin­nen, die weg­ge­bis­sen und gecan­celt wur­den, der Groß­teil aller ist aber der fal­schen Pro­phe­tin aus Köln gefolgt. Jede Fern­seh­dis­kus­si­on wur­de zur Abrech­nung. Dabei steckt im Hin­ter­grund eigent­lich nur ein gei­sti­ges Hin­ter­welt­le­rIn­nen­tum. — Auch, wie sie im Ver­fah­ren gegen Jörg Kachelm­ann aus­ge­rech­net für die Bild­zei­tung das Urteil schon längst gespro­chen hat­te, als die­se unsäg­li­che Geschich­te der Rache aus Lie­be und Eifer­sucht ans Licht kam.

    Anto­nio Tempesta: 
    Die Furie Tisi­pho­ne im Palast von Atha­mas, 1606.

    Hohes Gericht der Diskurse!

    Ich bean­tra­ge, daß zum ‘päd­ago­gi­schen Eros’ noch ein ‘psy­cho­lo­gi­scher Eros’ hin­zu­kom­men soll, näm­lich einer, der den Leu­ten ihre Wür­de läßt, so daß sie wie­der auf­ste­hen kön­nen. — Was soll all die­ser Haß, die Recht­ha­be­rei und der dum­me Bio­lo­gis­mus, mit dem Ali­ce Schwar­ze in der Geschlech­ter­fra­ge schon seit Jahr­zehn­ten einen Unfrie­den stif­tet, der ihr als Geschäfts­grund­la­ge dient.

    Wann wird sie end­lich Genug­tu­ung fin­den? — Aber soll­te man sie denn als Rache­göt­tin über­haupt ernst neh­men? Mit den Göt­tern ver­hält es sich näm­lich wie mit dem bekann­ten Wer­be­spruch: Die tun was!

    Wie­viel Opfer ver­langt sie noch? Sie ist und bleibt erwart­bar untröst­lich. Wür­de sie wirk­lich über­grei­fen­de Inter­es­sen im Kos­mos ver­tre­ten, so wie Göt­ter es tun, die eben nicht eher ruhen, bis Aus­gleich geschaf­fen wor­den ist, man könn­te es nach­voll­zie­hen. Sie betreibt aber nur ihr Ding nach Gutsherrinnenart.

    Das, genau das wäre eine Fra­ge für den psy­cho­lo­gi­schen Eros. Er soll bit­te sagen, ob die­ses rosti­ge Kriegs­beil nicht lang­sam zur Manie gewor­den ist. — Wenn nur nicht so vie­le Frau­en ihr Leben und ihr Glück dar­auf ver­wet­tet hätten.

    Es ist wie bei den Erin­ny­en. Das sind Pla­ge­gei­ster, die im sel­ben Augen­blick ent­ste­hen, wenn Kro­nos, der jüng­ste Sohn der Erd­göt­tin Gaia in der Geschich­te der Groß­göt­ter, auf Geheiß sei­ner Mut­ter den eige­nen Vater mit einer Sichel ent­mannt. — Sobald die Sichel ihre meu­cheln­de Tat voll­führt, spritzt ein Teil des gött­li­chen Samens ins Meer, wor­aus Aphro­di­te, die ‘Schaum­ge­bo­re­ne’ entsteht.

    Aber aus dem Blut, das auf Land fällt, ent­ste­hen Plagegeister.

    San­dro Bot­ti­cel­li: Die Geburt der Venus, 1485.

    Nun stellt sich immer die Fra­ge in sol­chen über­zeit­li­chen Ange­le­gen­hei­ten, war­um, wann und ob über­haupt sich so etwas wie­der beru­hi­gen könn­te. Immer­hin ist es eine Tat von kos­mi­schem Aus­maß. — Es ist die Fra­ge, was Frau Schwar­zer wirk­lich bewegt. Ist es Ver­gel­tung, ist es Aus­gleich, der Wunsch nach Wie­der­gut­ma­chung oder die Her­stel­lung von Har­mo­nie, auf die sie sich wohl nicht wirk­lich ver­steht? Oder hat sie nicht ein­fach nur den rui­nö­sen Geschlech­ter­kampf zum Geschäfts­mo­dell ihres Lebens gemacht?

    Ich den­ke an einen mei­ner wich­tig­sten Philosophie–Lehrer an der Uni in Mün­ster, dem ich viel zu ver­dan­ken habe, weil er im Zuge sei­ner “Phi­lo­so­phie der Beschrei­bung” den Per­spek­ti­vis­mus zur Metho­de erho­ben hat. Das habe ich über­nom­men. — Ich will alle Per­spek­ti­ven wür­di­gen, denn alle sind gleich weit zu Gott. Daher zäh­len für mich auch immer Posi­tio­nen, die nicht mei­ne sind. Ich will, daß sie alle eine fai­re Chan­cen haben, sich ver­tre­ten und durch­set­zen zu kön­nen. Möge die bes­se­re Theo­rie gewinnen!

    Aber wie sag­te doch die­ser Phi­lo­soph immer wie­der, weil er die Welt schluß­end­lich offen­bar nicht mehr ver­stand: “Ja, da gibt es jetzt so eine neue Zeit­schrift, die Emma.” — Es hat nie jemand dar­auf geant­wor­tet, ich auch nicht. Heu­te wür­de ich es kön­nen und ich wür­de das Wort ergrei­fen, ganz gewiß.

    Ich dan­ke Fried­rich Kaul­bach, der wohl nicht gewußt hat, daß er einer mei­ner wich­tig­sten Leh­rer wur­de. Die­se Glos­se ist ihm gewidmet.

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    Wohl beraten sein

    Über das Regieren seiner selbst

    Eigent­lich sind wir ja alle Köni­ge und Köni­gin­nen. Man­che sind Dik­ta­to­ren, ande­re Des­po­ten und nicht weni­ge sind die Reprä­sen­tan­ten von “fai­led states”.

    Fre­de­rick Leigh­ton: Römi­sche Vesta­lin, 1880.

    Wenn in der grie­chi­schen Phi­lo­so­phie von “sophro­sy­ne” gespro­chen wird, dann geht es um “Wohl­be­ra­ten­sein”. Also gut, man ist jetzt König oder Köni­gin, kann ziem­lich viel befeh­len und muß nicht wirk­lich dis­ku­tie­ren. – Dabei bin ich mir nicht ganz sicher, ob die­ser Vor­zug, nicht mal mehr mit sich reden las­sen zu müs­sen, weil man doch so hoch­wohl­ge­bo­ren ist, wirk­lich zum Vor­teil gereicht. 

    Gera­de am Wider­sprüch­li­chen kann man doch die eige­ne Auf­fas­sung minu­ti­ös schär­fen. Gera­de an klei­nen Unter­schie­den läßt sich genau­er erken­nen, wor­auf es denn nun wirk­lich ankom­men soll­te. – Aber nur die wenig­sten ver­ste­hen sich dar­auf, mit sol­che Fül­le an Mög­lich­kei­ten auch umge­hen zu kön­nen. 

    Es träu­men ja vie­le davon, ein guter Dik­ta­tor zu sein, weil sie neben dem Wet­ter auch gern noch die Poli­tik und viel­leicht gleich die gan­ze Schöp­fung ‘bes­ser’ machen wür­den, wenn man sie nur mal ran­lie­ße, an die Hebel der Macht, die es in Wirk­lich­keit nicht gibt. 

    Wir sind näm­lich spä­te­stens seit Niklas Luh­mann vor­ge­warnt: Soll­te man in die her­me­tisch ver­schlos­se­nen Kan­zeln der Pilo­ten, die wohl nicht von unge­fähr das­sel­be Wort haben, wie auch die Kol­le­gen in den Kir­chen. Soll­te man es also tat­säch­lich fer­tig brin­gen, dort ein­zu­drin­gen, die Flug­zeug-Kan­zeln wären leer. Kein Pilot nir­gends. Alles ist auf Autopilot. 

    Das hängt nun wie­der­um damit zusam­men, daß schon seit Jahr­mil­lio­nen gera­de bio­lo­gi­sche Pro­zes­se sich selbst steu­ern. Ins­be­son­de­re auch das Wett­rü­sten zwi­schen Viren und Wir­ten. – Hän­disch ist da nicht viel zu machen, höch­stens kol­la­bie­ren las­sen kann man das Gan­ze, sogar auf der Stelle.

    Ich hat­te mal einen Traum. Da war ich König oder so etwas. Jeden­falls hat­te ich die Befehls­ge­walt und sonst kei­ner. Also end­lich konn­te ich mal sagen, was Sache ist. – Und ich sag­te also zu mei­nem ersten Mini­ster, er möge “Frie­den” schaf­fen und die Leu­te “glück­lich” machen. 

    Ein lehr­rei­cher Traum war das, weil ich ziem­lich schnell hoch alar­miert auf­ge­wacht bin. Alles war aus dem Ruder gelau­fen. Der Unhold kam doch tat­säch­lich mit blut­ver­schmier­ten Hän­den zurück!

    Das ist, was man oder auch frau beim König­sein berück­sich­ti­gen soll­te. – Befeh­len ist viel zu ein­fach. Wohl­be­ra­ten­sein, das wäre es. Aber wer berät die Bera­ter und vor allem, wer ret­tet die Bera­te­nen? – Also wann wäre man denn nun wirk­lich “wohl beraten”? 

    Das Pro­blem mit den Bera­tern liegt dar­in, daß die­se ver­kau­fen wol­len und müs­sen. – Alle ver­hin­der­ten Köni­ge und Köni­gin­nen mögen daher ersatz­hal­ber an den letz­ten Arzt­be­such den­ken, in dem es ja auch ‘nur’ um Bera­tung ging. – Und was hat man “gekauft”, wozu man sich hat “breit­schla­gen” lassen? 

    Hat man eigent­lich ver­stan­den, was der Weiß­kit­tel einem hat­te weiß machen wol­len? – Sor­ry: War­um hat man einer Behand­lung zuge­stimmt, von der man gar nicht ver­stan­den hat, was sie eigent­lich mit einem macht? 

    Ach ja, das ist Ver­trau­en? – In wen oder was? Kann man Ver­ant­wor­tung abge­ben? Wer hät­te denn mit den Fol­gen zu leben? 

    Ich muß schon sagen, daß ich nie ver­stan­den haben, daß Pati­en­ten vor­geb­lich wirk­lich glau­ben, daß sie nur einen ganz tie­fen, höchst ver­trau­ens­voll insze­nier­ten Blick in die Augen ihres Arz­tes wer­fen müß­ten, und schon haben sie ihn für sich ein­ge­nom­men. – Wie naiv ist das denn?

    Ich bin heu­te im Semi­nar über die “Schön­heit der See­le” durch eine Ein­flü­ste­rung ret­ten­der Musen bei Wind­stil­le auf die ret­ten­de Idee gebracht wor­den, daß “Wohl­be­ra­ten­sein” zustan­de gebracht wird, wenn wir uns mit allen Instan­zen im “forum inter­num” regel­mä­ßig zum Arbeits­früh­stück ver­ab­re­den. Das wäre Wohlberatensein. 

    War­um besorgt man sich nicht als näch­stes einen Ter­min beim eige­nen Gewis­sen? Man könn­te genau­er abstim­men, was im eige­nen Inter­es­se wäre, daß das Gewis­sen in sei­ner ziem­lich klein­ka­rier­ten Auf­merk­sam­keit bit­te im Dien­ste der gemein­sa­men Sache sei­ne per­ma­nen­ten Son­die­run­gen zur Anwen­dung bringt, um dafür zu sor­gen, daß uns nichts wesent­li­ches entgeht. 

    Ein wei­te­res ist heu­te auf­ge­fal­len: Offen­bar gibt es eine Ver­bin­dung zwi­schen dem Selbst­be­wußt­sein und dem Gewis­sen. – Wer sich selbst wür­dig ver­hält, kann, darf und wird auf eine dem­entspre­chen­de Behand­lung einen gewis­sen Anspruch gel­tend machen.

    Mut­maß­li­cher­wei­se haben wir in unse­rer kri­sen­ge­schüt­tel­ten Gegen­wart inzwi­schen einen Ent­wick­lungs­stand in der Psy­cho­ge­ne­se erreicht, von dem ab an es mög­lich, aber auch erfor­der­lich gewor­den ist, Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät an den Tag zu legen. – Das bedeu­tet, daß wir das EINE tun kön­nen, ohne das ANDERE las­sen zu müs­sen. Wir kön­nen nicht nur, wie soll­ten sogar “wider­sprüch­lich” agie­ren, ganz nach Art von Köni­gen und Königinnen. 

    Wäh­rend Kant noch “Ein­stim­mig­keit mit sich selbst” ein­for­dert, kön­nen wir es uns offen­bar neu­er­dings sogar lei­sten, mit wech­seln­den Mehr­hei­ten zu regie­ren. – Das wäre ohne­hin das Beste: Eine Gesell­schaft, in der solan­ge dis­ku­tiert wird, bis eine Par­tei auf­gibt und geht, weil ihr nichts mehr ein­fällt, der eige­nen Auf­fas­sung wei­ter­hin Auf­trieb zu verschaffen. 

    Das soll bei den India­nern im Älte­sten­rat der Fall gewe­sen sein. Darf man noch India­ner sagen? – Doch, weil es ein Ehren­wort vol­ler Hoch­ach­tung ist für ganz beson­de­re Men­schen, denen Zugän­ge zu Wel­ten zuge­traut wer­den, die wich­ti­ger sind als die unhei­li­gen Bot­schaf­ten aller Waren­fe­ti­schi­sten, die uns neu­er­dings in den Hype um die Kryp­to­wäh­run­gen ein­wei­hen wol­len, als wäre das so etwas wie eine Initiation. 

    Laß es Lie­be sein: Lie­be zur Welt, zum Men­schen, zur Natur und sogar zum Schick­sal. – Es bleibt uns schluß­end­lich nur eines: Ver­ste­hen. Und das in Zei­ten, die das Ver­ste­hen zur Sün­de erklärt haben. 

    Lie­be und Ver­ste­hen, war das nicht schon immer dasselbe?

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    Ich weiß, daß ich nichts weiß

    Über Urteilsvermögen im Umgang mit Nichtwissen

    Wer kennt die­se Selbst­aus­sa­ge nicht. – Aber wer hat wirk­lich ver­stan­den, was sie bedeu­tet? Ja, die Sen­tenz stammt von Sokra­tes und die mei­sten machen es sich zu leicht, wenn sie anneh­men, daß es Aus­druck sei­ner Beschei­den­heit ist. Irrtum!

    Sokra­tes ist ganz und gar nicht beschei­den, er will immer alles ganz genau wis­sen und geht dann bis an die Gren­zen des­sen, was über­haupt noch mög­lich ist. Nicht sel­ten steht er dann da, wie einst Keith Jar­rett bei einem Kon­zert in Ham­burg. – Der Flow kam ein­fach nicht und man kann ja nun die Göt­ter nicht zwin­gen, wenn sie offen­kun­dig ganz woan­ders was bes­se­res zu tun haben.

    Also hat er sich red­lich bemüht, ist dann auf­ge­stan­den und hat sich direkt ans Publi­kum gewandt mit der Fra­ge: “Ist hier ein Pia­nist, der das Kon­zert fort­set­zen kann?”

    In sol­chen Situa­tio­nen nei­gen die mei­sten Zeit­ge­nos­sen dazu, ins Glau­ben zu sprin­gen. Man gibt die Steue­rung aus der Hand und schal­tet das Den­ken auf Auto­pi­lot. Aber in Wahr­heit weiß man doch gar nicht, wo es hin­ge­hen soll. Und beur­tei­len, was man denn nun anneh­men oder gar glau­ben soll­te, kön­nen die wenig­sten, weil es ihnen an Urteils­fä­hig­keit fehlt.

    Will­kür­li­che Moti­ve, die mit der Sache selbst kaum etwas zu tun haben, spie­len dann immer her­ein. Aber der eigent­li­che Grund für die­ses Ein­knicken vor den Risi­ken der See­fahrt im Den­ken liegt woan­ders: Man kann das eige­ne Den­ken nicht in der Schwe­be halten!

    Und dann wird der Main­stream bemüht, man schließt sich irgend­ei­ner herr­schen­den Mei­nung an, die zuvor von den Alpha­tie­ren unter den Mei­nungs­ma­chern bei Twit­ter aus­ge­kas­pert wor­den ist. Dank­bar wird das dann von kar­rie­re­be­flis­se­nen Nach­wuchs­kräf­ten auf­ge­grif­fen und exe­ku­tiert. Alle, die jetzt noch anders den­ken, sol­len ent­we­der schwei­gen oder sie wer­den exkom­mu­ni­ziert. – Wo kämen wir hin mit der herr­schen­den Mei­nung, wenn jeder selbst den­ken wollte?

    Die wenig­sten Zeit­ge­nos­sen sind wil­lens und in der Lage, die eige­nen Gedan­ken in der Schwe­be zu hal­ten, um dann auch noch sank­tio­niert zu wer­den von Bes­ser­wis­sern und vor allem von Bes­ser­men­schen. – Und den­noch hat sich da eine neue Iden­ti­tät her­aus­ge­bil­det, es ist die derer, die dem Druck beacht­li­cher­wei­se stand­ge­hal­ten haben. Es sind die, die sich haben ver­un­glimp­fen las­sen, die sich tag­täg­lich haben “frei­te­sten” las­sen müs­sen, um noch ihrer Arbeit und ihren Ver­pflich­tun­gen nach­ge­hen zu können.

    “Zeit der Abrech­nung”, das klingt wie der Titel für einen schlech­ten Western. Wobei ich aller­dings zuge­ste­hen muß, daß mir ein wenig danach ist, Abrech­nung. – Die Dop­pel­mo­ral, sich einer­seits zu ver­bie­gen, weil man doch schon zeit­le­bens ein Häk­chen hat­te wer­den wol­len, um dann dop­pelt zu kas­sie­ren, ist gera­de­zu skan­da­lös. Einer­seits war man ja so etwas von vor­bild­lich des “klei­nen Pik­sens” wegen und ande­rer­seits wur­de man auch noch belohnt, durf­te wie­der ins Restau­rant und in den Urlaub flie­gen, wäh­rend Son­der­lin­ge wie ich nicht ein­mal mehr in den Bau­markt gehen durf­ten, um sich wenig­stens etwas zum Basteln zu holen.

    Ja, ich möch­te Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, bevor ich über­haupt wie­der bereit bin, mich mit denen zu ver­stän­di­gen, die aus ihrem Her­zen eine Mör­der­gru­be gemacht haben.

    Ich will mir jetzt von den Impf­vor­dräng­lern nicht auch noch erklä­ren las­sen, daß ich nicht nur Impf­skep­ti­ker bin, son­dern auch noch Putin­ver­ste­her, wenn ich auf die Ver­ant­wor­tung des Westens unter der ego­ma­ni­schen Füh­rung der USA hin­zu­wei­sen nicht müde wer­de. – Die rhe­to­ri­schen Figu­ren sind die­sel­ben, man ist dann ein Leug­ner, der angeb­lich aus­ge­grenzt gehört. In den Augen der Über­an­ge­paß­ten ist Ver­ste­hen nun­mehr zur Sün­de geworden.

    Ich habe früh­zei­tig öffent­lich davor gewarnt, daß sich die Erwach­se­nen in ihrer pani­schen Angst nicht auch an Kin­dern, Jugend­li­chen und an alten und ster­ben­den Men­schen ver­grei­fen dür­fen. Aber die Angst hat vie­le ermäch­tigt, gewis­ser­ma­ßen über Lei­chen zu gehen. – Und jetzt will es wie­der mal kei­ner gewe­sen sein. Die Ver­tre­ter der Ethik-Kom­mis­si­on, die Bun­des­ver­fas­sungs­rich­ter und die Rie­ge der Scharf­ma­cher und Haß­pre­di­ger zucken ein­fach nur mit den Schul­tern und möch­ten nicht mehr dar­an erin­nert wer­den. Shit happens?

    Sor­ry, als es mir zu dumm wur­de, habe ich sei­ner­zeit schon zwi­schen Nicht­den­kern und Selbst­den­kern unter­schie­den. Und nicht sel­ten ging es mir in der Coro­na-Zeit, hin­ter den Git­ter­stä­ben des Lock­down-Syn­droms, wie dem Pan­ther von Ril­ke und wie Keith Jar­rett im miß­lun­ge­nen Kon­zert von Hamburg.

    Über dem Ein­gang zur Aka­de­mie von Pla­ton in Athen soll der Spruch gestan­den haben, es möge nie­mand ein­tre­ten, der nichts von Mathe­ma­tik ver­stün­de, was damals eher eine durch­aus anschau­li­che Geo­me­trie war. – Mein Prin­zip habe ich bei Hans Blu­men­berg gefun­den, der davon sprach, daß man den Augen­hin­ter­grund spie­geln soll­te, um zu sehen, wor­auf ande­re wirk­lich Wert legen.

    Es ist ja nun nicht so, daß nicht ein und der­sel­be Gedan­ke immer wie­der, in allen erdenk­li­chen Dar­rei­chungs­for­men gebo­ten wor­den ist. Hier etwa bei Fran­kie Goes to Hollywood:

    “Relax, don′t do it
    When you wan­na go do it
    Relax, don’t do it
    When you wan­na come”

    In mei­nen Semi­na­ren for­de­re ich dazu auf, auch stei­le The­sen zu ver­tre­ten. Die Kunst liegt schließ­lich dar­in, mög­lichst genau in Erfah­rung zu brin­gen, wann eine Theo­rie kol­la­biert. Nicht weni­ge bre­chen bereits an ihrem eige­nen Gewicht in sich zusam­men, man muß sie nicht ein­mal schief anschauen.

    Dann gibt es wel­che, die unter Bela­stung erstaun­lich lan­ge hal­ten, wor­auf ich dann aber den Mei­ster­test mache, ob eine hoch­mö­gen­de Auf­fas­sung auch in der Lage ist, sich selbst zu ertra­gen. – Eine gute Theo­rie soll­te fähig sein, “neben sich” auch noch ganz ande­re, womög­lich kon­kur­rie­ren­de Auf­fas­sung tole­rie­ren und mit ins Gespräch zie­hen zu können.

    Wenn eine Theo­rie die das nicht kann, weil deren Ver­tre­ter zumeist der­art über­zeugt sind von ihrer “Alter­na­tiv­lo­sig­keit”, dann dis­qua­li­fi­zie­ren sie sich selbst, denn das ist unphi­lo­so­phisch und nicht sel­ten auch unmo­ra­lisch. – Sokra­tes war gera­de nicht beschei­den, ganz im Gegen­teil. Die ande­ren, haben ihn zum Tode ver­ur­teilt, weil sie das Phi­lo­so­phie­ren nicht mehr ertru­gen, weil sie nicht wei­ter­hin bei ihren Dumm­hei­ten öffent­lich über­führt wer­den mochten.

    Sokra­tes glaubt den Prie­stern des Ora­kels nicht, weil er es doch bes­ser von sich weiß, weil er weiß, daß er nichts weiß. – Dar­auf beginnt er sei­ne Kam­pa­gne, mit der er sich in den Augen der Hono­ra­tio­ren unmög­lich macht, wenn er sie der Rei­he nach alle vor­führt. – Ich habe schon oft dar­über nach­ge­dacht, ob es nicht auch ein geschick­tes Manö­ver der Prie­ster von Del­phi gewe­sen sein könn­te, dafür zu sor­gen, daß Sokra­tes sich selbst unmög­lich zu machen beginnt.

    Mark Anto­kol­ski: Death of Socra­tes, 1875.

    Ich stel­le mir vor, wie Sokra­tes in sei­ner gan­zen Bar­fü­ßig­keit an einer Sei­te die Ago­ra betritt und auf der ande­ren Sei­te die gefühlt Wis­sen­den flucht­ar­tig das Wei­te suchen. Wer nicht schnell genug ist, wird sich einem Gespräch stel­len müs­sen, das eigent­lich nicht dazu dient, den ande­ren nur vor­zu­füh­ren, denn das machen die Bes­ser­wis­ser schon selbst.

    Ihr Feh­ler ist kar­di­nal, sie mei­nen, daß man die­ses und jenes wirk­lich so ver­bind­lich und ein­deu­tig wis­sen kön­ne, so daß man rich­ten kann über ande­re, die eben nicht “rich­tig” den­ken. – Genau die­se hoch­mö­gen­den Zeit­ge­nos­sen wer­den jetzt aber vor­ge­führt, indem ihnen die Gele­gen­heit gege­ben wird, sich selbst vorzuführen.

    Aber es geht dabei kei­nes­wegs um eine Kampf, wie so vie­le noch immer mei­nen. Als wäre Phi­lo­so­phie so etwas wie eine Lust am Schar­müt­zel, wobei es dar­auf ankä­me, ande­re der­art in Ver­le­gen­heit zu brin­gen, so daß sie “nichts mehr sagen kön­nen”. – Ein wirk­li­cher phi­lo­so­phi­scher Dia­log hat dage­gen immer etwas Kon­sen­su­el­les. Man spricht gemein­sam etwas an und ent­wickelt dann auch gemein­sam wei­ter­ge­hen­des Denken.

    Dabei wird es aber immer kom­ple­xer, weil wir ganz all­mäh­lich gemein­sam immer mehr sehen und “ein­se­hen”, was auch auf irgend­ei­ne Wei­se rele­vant sein dürf­te. – Genau das aber hal­ten die wenig­sten aus. Sie glau­ben ernst­haft, am Ende käme immer nur die ein­zi­ge, unteil­ba­re, wis­sen­schaft­lich-wis­sen­schaft­li­che Wahr­heit über die wirk­lich wirk­li­che Wirk­lich­keit dabei her­aus. Und alle hät­ten sich nun die­ser ein­zi­gen Wahr­heit wie beim Göt­zen­dienst zu unterwerfen.

    Gera­de die­se Zeit­ge­nos­sen haben sich gehen las­sen wäh­rend der blei­er­nen Zeit. Man konn­te mal wie­der so rich­tig einer ein­zig rich­ti­gen Auf­fas­sung sein und end­lich auch mal wie­der den Block­wart geben. Ich habe mich gern von man­chen Men­schen getrennt in die­ser Zeit, weil ich gese­hen habe, daß sie mir auch bis­her eigent­lich immer nur mei­ne Denk­zeit gestoh­len und die Musen ver­grault haben.

    Die ganz gro­ße Feig­heit kam bei denen hin­zu, die sich in die Schwei­ge­spi­ra­le zurück­ge­zo­gen haben, und rein gar nichts mehr kund getan haben. Sie haben ihr Süpp­chen im Stil­len gekocht. – Aber auch sie sind mit ver­ant­wort­lich für de Irr­sinn, in den sich ein Groß­teil der Gesell­schaft vor allem in Deutsch­land hat von einer Pres­se trei­ben las­sen, die sich plötz­lich wie die Hei­li­ge Inqui­si­ti­on auf­ge­führt hat. – Ja, und jetzt kommt die Abrech­nung, wenn die unse­li­gen Unsäg­lich­kei­ten aus den Pro­to­kol­len der Pan­ther­zeit wie­der zum Besten gege­ben wer­den. Im Nach­hin­ein klingt das alles noch schau­der­haf­ter, so daß man sich fra­gen möch­te, wie sehr wol­len eigent­lich die, die sich da so haben gehen las­sen, mit ihrem Scham­emp­fin­den klar kommen?

    Sie haben sich ver­füh­ren, in ihrer ein­ge­bil­de­ten Gewiß­heit zu wis­sen, was sie nicht wis­sen kön­nen, und das alles mit gefähr­li­chem Halb­wis­sen. Mit Ent­set­zen den­ke ich an die vie­len unbe­hol­fe­nen Gesprä­che über natur­wis­sen­schaft­li­che Zusam­men­hän­ge zurück, die ein­fach nur heil­los verliefen.

    Ja, es ist so. Wir wis­sen nichts! – Das hat der gries­grä­mi­ge Her­bert Weh­ner in dem berühm­ten Fern­seh­in­ter­view mit Hans Die­ter Lueg mit aggres­si­ver Hoch­po­tenz unbe­zwei­fel­bar klar gestellt. – Übri­gens ist es köst­lich, wie sich bei­de behar­ken und Weh­ner sein Gegen­über als “Herr Lüg” titu­liert, wor­auf die­ser, gar nicht ver­le­gen mit “Herr Wöh­ner” kontert.

    Unge­fähr so stel­le ich mir eine phi­lo­so­phi­sche Per­for­mance des Phi­lo­so­phen unter den Phi­lo­so­phen vor, wie er, gefolgt von einer Entou­ra­ge hoch­wohl­ge­bo­re­ner Jün­ger den Hono­ra­tio­ren wie­der ein­mal eine Abfuhr nach der ande­ren erteil­te und die Jüng­lin­ge dar­über in wie­hern­des Geläch­ter aus­bra­chen. Nichts ist schlim­mer als die ein­ge­bil­de­te Weis­heit, daher habe ich auch kein Mit­leid, denn die Ver­tre­ter des Nicht­selbst­den­kens haben sich den Spott red­lich verdient.

    Und nein, wir ste­hen kei­nes­wegs nackt da, son­dern ganz im Gegen­teil. Es wird sogar immer bun­ter, sobald das Den­ken ins Schwe­ben kommt, weil sich immer mehr gute Gei­ster ein­stel­len, denn wo einer ist, kom­men bald schon ande­re hin­zu. – Das geschieht aber nur, wenn gar nicht mehr irgend­ein Anspruch erho­ben wird, irgend­et­was jetzt aber nun ernst­haft und unbe­zwei­fel­bar mit Gewiß­heit wis­sen zu kön­nen und zwar so, daß sich ande­re gefäl­ligst dar­an zu hal­ten haben.

    Wor­auf es beim Umgang mit Nicht­wis­sen ankommt? – Wir ver­fü­gen hof­fent­lich über eine Urteils­kraft, die sich auf das Schwe­ben ver­steht. Und die­ses Urteils­ver­mö­gen ist für Situa­tio­nen zustän­dig, in denen wir ein­fach nicht genug wis­sen können.

    Phi­lo­so­phie ist daher auch nicht ein­fach nur eine Tätig­keit, es geht auch nicht nur um Tech­ni­ken des Den­kens, Schluß­fol­gerns und Bewei­sens. Es geht viel­mehr um eine Lebens­hal­tung, die aller­dings auch ein­ge­übt wer­den kann.

    Wenn Dia­lo­ge und Dis­kur­se sich in unse­rer ein­fäl­ti­gen Zeit und unter Abse­hung der vie­len Ein­di­men­sio­na­li­tä­ten end­lich ein­mal lösen von der Gedan­ken­schwe­re ihrer Blind­heit und ris­kie­ren, mit dem Schwe­ben zu begin­nen, dann ist es der Aus­druck von Selbstbewußtsein.

    Man muß es sich eben auch lei­sten kön­nen, vie­len Gedan­ken ihre Chan­cen zukom­men zu las­sen. Dann ist Schluß mit die­sem grim­mi­gen Recht­ha­ben­wol­len, wenn end­lich die Ein­stim­mung in die phi­lo­so­phi­sche Grund­hal­tung auf­kommt, um bereit­wil­lig Platz zu machen für den Auf­tritt aller erdenk­li­cher Gedan­ken, Gefüh­le und Gei­ster, von denen einer bemer­kens­wer­ter als der ande­re ist. 

    Wenn dem so ist, dann kann Geist auf­kom­men. Aber die­ser macht das nur in Aus­nah­me­si­tua­tio­nen, weil er anson­sten weit bes­se­res zu tun hat. – Wenn wir uns aber die­se Frei­hei­ten her­aus­neh­men im Gespräch, dann kommt auf, was in den alten Schrif­ten als “Lachen der Wei­sen” dar­ge­stellt wird.