• Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Moderne,  Motive der Mythen,  Philosophie,  Platon,  Professionalität,  Psyche,  Psychosophie,  Schönheit,  Seele,  Technikethik,  Theorien der Kultur,  Traum,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Über mich

    Prof. Dr. phil. Heinz-Ulrich Nennen

    Hoch­schul­leh­rer für Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Karls­ru­he.

    Phi­lo­so­phi­sche Pra­xis Münster,

    für alle Zwei­fels­fäl­le des Lebens, des Den­kens und nicht zuletzt der Gefühle.

    Email: heinz-ulrich.nennen@t‑online.de

    Motto:

    Zunächst muß

    das Eigent­li­che

    zur Spra­che gebracht werden,

    denn nur so kommt das Neue ins Denken.

    Von dort kann es in die Welt gelan­gen und spätestens

    dann wird es auch im eige­nen Leben nicht ganz ohne Wir­kung bleiben.

    Etwas ausführlicher:

    Ich bin Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Karls­ru­he (KIT). Im west­fä­li­schen Mün­ster betrei­be ich eine Phi­lo­so­phi­sche Ambu­lanz, eine Bera­tung zur Selbst­be­ra­tung, denn Phi­lo­so­phie ist ein Gespräch der See­le mit sich selbst.

    In Mün­ster habe ich Phi­lo­so­phie, Sozio­lo­gie und Erzie­hungs­wis­sen­schaft stu­diert und 1989 mit einer Dis­ser­ta­ti­on unter dem Titel Öko­lo­gie im Dis­kurs pro­mo­viert. Dar­in habe ich den sei­ner­zeit auf­kom­men­de Dis­kur­se über Öko­lo­gie in sei­ner gan­zen Viel­falt der Tech­nik- und Zivi­li­sa­ti­ons­kri­tik doku­men­tiert und die Hin­ter­grün­de syste­ma­tisch rekon­stru­iert. – Dem­nach gibt es drei mög­li­che Begrün­dun­gen für Umweltschutz:

    • prag­ma­tisch-anthro­po­zen­trisch, weil es auf Dau­er unsin­nig ist, sich selbst die Lebens- und Exi­stenz­grund­la­gen zu entziehen
    • ethisch-mora­lisch, weil es gebo­ten erscheint, sich ver­pflich­tet zu füh­len, nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen, ande­ren Lebe­we­sen oder auch Göt­tern gegenüber
    • ästhe­tisch, weil etwa ein Baum weit mehr ist als eine Sau­er­stoff­spen­der, son­dern eben auch ein Erleb­nis, was übri­gens alles ande­re als banal ist

    Mit der Dis­ser­ta­ti­on zeig­te sich bereits der Schwer­punkt mei­ner Arbeit: Mich inter­es­sie­ren Dis­kur­se im Gro­ßen und Gan­zen aber auch Dia­lo­ge im Klei­nen und Per­sön­li­chen. Ich bin Dia­log­part­ner und Dis­kurs­ana­ly­ti­ker: Einer­seits inter­es­siert mich die Fra­ge, wie das Neue ins Den­ken kommt, ande­rer­seits, wie Dia­lo­ge und Dis­kur­se sol­che Trans­for­ma­tio­nen schaf­fen. – Daher arbei­te ich gern inter-dis­zi­pli­när, an den Gren­zen zwi­schen Psy­cho­lo­gie, Anthro­po­lo­gie, Kul­tur­wis­sen­schaft und eben Philosophie.

    Nach einer 10-jäh­ri­gen Tätig­keit als Wis­sen­schaft­ler im Bereich Dis­kurs an der Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung, hat­te ich gestie­ge­nes Inter­es­se dar­an, ein­mal einen Dis­kurs im Pro­zeß, also in “Wild­form” zu beob­ach­ten, zu beschrei­ben und wäh­rend­des­sen zeit­gleich zu analysieren.

    Im Som­mer 1999 bot sich die­se Gele­gen­heit. Anläß­lich des Skan­dals um die Elmau­er Rede, die der Phi­lo­soph Peter Slo­ter­di­jk gehal­ten hat­te, kam es zu einem Medi­en-Hype son­der­glei­chen, mit mehr als 1000 Zei­tungs­ar­ti­keln, Kom­men­ta­ren und Berich­ten. Als ich sei­ner­zeit im Radio davor erfuhr, wuß­te ich, daß es “mein” The­ma sein würde.

    In einem 700-sei­ti­gen Buch, das auch der Habi­li­ta­ti­on dien­te, habe ich die­sen soeben auf­kom­men­den Skan­dal um die angeb­lich faschi­sto­ide Rede des Phi­lo­so­phen Peter Slo­ter­di­jk in Echt­zeit rekon­stru­iert. Es war ein Phi­lo­so­phi­sches Expe­ri­ment mit der Fra­ge, ob es gelin­gen kann, einen Dis­kurs nicht nur zu beob­ach­ten, son­dern zugleich auch auf den Aus­gang der Slo­ter­di­jk-Debat­te zu spe­ku­lie­ren, noch wäh­rend der Aus­gang des Skan­dals noch offen war.

    Die War­nung dage­gen ist bekannt: 

    “Und hät­test Du geschwie­gen, wärst Du Phi­lo­soph geblieben.” 

    Ich bin davon über­zeugt, daß es mög­lich ist, Phi­lo­so­phie in Echt­zeit betrei­ben zu kön­nen, also wäh­rend der Pro­zeß noch läuft. Erst dann hat auch unser Ver­nunft­ver­mö­gen wirk­lich eine Chan­ce, sich zu bewei­sen. – Bei die­sem phi­lo­so­phi­schen Expe­ri­ment ging es mir um den Beweis, daß es unter gewis­sen metho­di­schen Bedin­gun­gen sehr wohl mög­lich sein kann, Phi­lo­so­phie in Echt­zeit betreiben.

    Die Metho­de geht auf man­che Über­le­gung und Beob­ach­tung mei­ner rund 10-jäh­ri­gen Tätig­keit als Wis­sen­schaft­ler im Bereich Dis­kurs an der Stutt­gar­ter Aka­de­mie für Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung zurück. Dort wur­de 1993 im Zuge der Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Atom­kraft (wie Geg­ner sagen), resp.  Kern­ener­gie (wie Befür­wor­ter sagen) und Kli­ma­schutz, von der Lan­des­re­gie­rung in Baden-Würt­tem­berg ein “Thinktank” zur Erfor­schung und zur Bewer­tung von Tech­nik­fol­gen gegrün­det, um mehr Wis­sen­schaft und mehr Dis­kurs in die mit­un­ter sehr dra­ma­tisch geführ­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen um neue Tech­no­lo­gien zu brin­gen. Die Poli­tik war sei­ner­zeit in die­sen Fra­gen mit ihrem Latein am Ende, – das ist eben der Augen­blick, in dem neue Insti­tu­tio­nen wie eine sol­che TA-Aka­de­mie gegrün­det werden.

    Zu Metho­de: Schaut man sich unse­re Urtei­le, Bewer­tun­gen und Ein­schät­zun­gen genau­er an, so set­zen sie sich zusam­men aus einer Viel­zahl von Aus­sa­gen, die aus unter­schied­lich­sten Sek­to­ren stam­men, die wir aber häu­fig nur zum Teil selbst über­prüft haben. Die Fra­ge ist dann immer, wie sicher, wie ent­schei­dend, wie bela­stungs­fä­hig unse­re Vor­an­nah­men wirk­lich sind. Noch ent­schei­den­der ist es, zu spü­ren, wo die Grund­la­gen und Vor­aus­set­zun­gen nicht wirk­lich sicher sind. 

    Das erzeugt eine gewis­sen Offen­heit, auch unge­wohn­ten und ande­ren Per­spek­ti­ven gegen­über. Es geht ums Ver­ste­hen, daher ist jedes “Mit­tel” Recht. Im Hin­ter­grund steht schließ­lich eine Phi­lo­so­phie, die schon beur­tei­len und bewer­ten wird, ob der neue, viel­leicht unge­wohn­te Gedan­ke es mög­lich macht, zu sehen, was sich hin­ter den Kulis­sen abspielt. 

    Die Kunst besteht nun genau dar­in, ein jedes mög­li­che Gesamt­ur­teil immer wie­der auf­zu­lö­sen in sei­ne Tei­le, aus denen es zusam­men gesetzt ist, um das eige­ne Urteils­ver­mö­gen noch­mals selbst beur­tei­len zu können.

    Wer sich des­sen bewußt ist, soll­te daher wis­sen, was wir eigent­lich wis­sen müß­ten aber viel­leicht gar nicht wis­sen kön­nen, so daß wir uns die Begrenzt­heit unse­res eige­nen Urteils­ver­mö­gens genau­er vor Augen füh­ren können.

    “Und hät­test Du geschwie­gen, wärst Du Phi­lo­soph geblie­ben!” Die­se War­nung hat gute Grün­de, denn zwi­schen dem Erha­be­nen und dem Lächer­li­chen liegt nur ein ein­zi­ger Schritt. 

    In der Phi­lo­so­phie geht es daher um die Fra­ge, wie­viel wir vom Gan­zen wirk­lich ver­stan­den haben. Zu Phi­lo­so­phie­ren bedeu­tet, ein fei­nes Gespür dafür zu ent­wickeln, wie weit ein­zel­ne Aus­sa­gen jeweils tra­gen, wann ein Wort sei­ne Bedeu­tung zu ver­lie­ren beginnt, wann irgend etwas an einer Aus­sa­gen nicht mehr zutref­fend sein kann.

    Daher arbei­te ich sehr inten­siv über Sym­bo­le, Mythen und Mär­chen und ins­be­son­de­re auch über Göt­ter­fi­gu­ren, weil sich dar­in, weil sich dahin­ter man­ches ver­birgt, was unse­rem Den­ken in abstrak­ten Begrif­fen wie­der mehr Inhalt, mehr Leben und Geist ver­mit­teln kann.

    Phi­lo­so­phie ist weit mehr als nur trocke­ne Theo­rie und eis­kal­te Metho­de. Sie hat auch eine Pra­xis, die sich ganz anders dar­stellt, die nicht nur sehr unter­halt­sam son­dern auch erhei­ternd sein kann. – Das Lachen ist schließ­lich ein immer wie­der­keh­ren­der Topos in der Philosophie.

    Phi­lo­so­phie ist nicht nur Theo­rie son­dern auch Pra­xis, geleb­te Pra­xis. Sie setzt daher eine gei­sti­ge Mobi­li­tät vor­aus, die dar­auf aus ist, stän­dig den Stand­ort zu wech­seln, um dabei nicht sel­ten auch die eige­ne Posi­ti­on, also sich selbst zu riskieren.

  • Anthropologie,  Diskurs,  Emanzipation,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Kunst,  Lüge,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Philosophie,  Platon,  Politik,  Psyche,  Religion,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Sprache, Macht und Hintersinn

    Am Anfang war das Wort

    Es spricht eini­ges für die mythisch moti­vier­te Spe­ku­la­ti­on, daß am Anfang und noch vor Erschaf­fung der Welt, bereits das Wort vor­han­den gewe­sen sein muß. 

    Tat­säch­lich läßt sich die Hypo­the­se nur schwer abwei­sen, daß Affen, die sich aus wel­chen Grün­den auch immer, in der Kopf set­zen, aus­zu­wan­dern aus dem Affen­pa­ra­dies, bereits über Kom­pen­sa­ti­ons­mög­lich­kei­ten ver­fü­gen muß­ten. — Wäh­rend Instink­te auf Lebens­räu­me adap­tie­ren, ist eines der Merk­ma­le für die Son­der­stel­lung des Men­schen eine spe­zi­fi­sche Umweltoffenheit.

    Phi­lo­so­phie beginnt mit Stau­nen, daher ist es ange­bracht, auch angeb­li­che Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten gene­rell in Fra­ge zu stel­len: Seit wann ver­fü­gen wir über Spra­che? War­um ›haben‹ wir eigent­lich Spra­che oder ›hat‹ die Spra­che nicht viel­mehr uns? — Was geschieht, wenn wir das Wort ergrei­fen oder auch, wenn uns Wor­te ergrei­fen? Wie ist es über­haupt mög­lich, daß wir sogar über ima­gi­nä­ren Wel­ten reden kön­nen, die nicht wirk­lich sind? 

    Es ist erstaun­lich, daß wir mit Wor­ten auch Din­ge ›reprä­sen­tie­ren‹ kön­nen, die gar nicht vor­han­den sind. Selbst wenn Vor­stel­lun­gen an sich irre­al sind, erschei­nen sie gleich­wohl im Nu vor dem inne­ren Auge. Daher wird Stau­nen in der Phi­lo­so­phie zur Metho­de. Es gilt, sich erst ein­mal vor­stel­len zu kön­nen, was wir ver­ste­hen möch­ten. Der Umgang mit dem Fik­ti­ven ist daher von ganz erheb­li­cher Bedeutung. 

    Allein die­se For­mu­lie­rung ›nicht wirk­lich‹ hat es in sich. Man könn­te fra­gen: Also was jetzt, wirk­lich oder nicht wirk­lich? Aber genau das, etwas in der Schwe­be las­sen zu kön­nen, macht Inspi­ra­ti­on erst möglich. 

    Münch­hau­sens Aben­teu­er. Post­kar­ten­se­rie nach den Lügen­ge­schich­ten des Baron Münch­hau­sen. — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Banal ist das alles nicht. Spra­che als sol­che ver­ste­hen zu wol­len bedeu­tet, den Men­schen als sol­chen ver­ste­hen zu müs­sen. Denn wir sind nur, weil wir Spra­che haben und die Spra­che hat uns. Zugleich sind da näm­lich auch Gren­zen, wie Lud­wig Witt­gen­stein konstatiert:

    Die Gren­zen mei­ner Spra­che bedeu­ten die Gren­zen mei­ner Welt. (Lud­wig Witt­gen­stein: Trac­ta­tus. Satz 5.6.)

    Es ist nicht ein­fach, aus­ge­rech­net in wich­ti­gen Momen­ten, die wie­der und wie­der vor­kom­men, die rich­ti­gen Wor­te zu fin­den. — Also wird bei Witt­gen­stein süf­fi­sant anempfohlen:

    Wovon man nicht spre­chen kann, dar­über muß man schwei­gen.(Lud­wig Witt­gen­stein: Trac­ta­tus. Ebd. Satz 7.

    Wenn Adam und Eva im Para­dies den Auf­trag erhiel­ten, für alles Namen zu fin­den, dann kann das nur der Anfang gewe­sen sein. — Mensch­li­che Spra­che ist weit mehr als ein­fa­che Nomen­kla­tur , sie erzeugt gan­ze Vor­stel­lungs­wei­sen für Wirk­lich­kei­ten, Wahr­neh­mun­gen, Emp­fin­dun­gen und Sehn­süch­te. Sie kann mit Tabus auch ein­ge­schränk­te Wirk­lich­kei­ten erzeu­gen, die nicht zur Spra­che gebracht wer­den dürfen.

    Es gilt, mit den Mit­teln der Spra­che über die Gren­zen unse­res Arti­ku­la­ti­ons– und Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gens hin­aus­zu­ge­hen. — Aber das ergrif­fe­ne Wort muß getra­gen sein von einer Welt­auf­fas­sung, von Welt­an­schau­un­gen, Kul­tur, Lebens­welt, Phi­lo­so­phie, Dich­tung, Kunst und Wis­sen­schaft, anson­sten wer­den die Wor­te sang– und klang­los ein­fach nur verklingen.

    Reden über Abwesendes

    Ent­schei­dend ist, daß die Wor­te oft selbst wie Reprä­sen­tan­ten fun­gie­ren. Wo etwas tabui­siert ist, wer­den Wor­te stumm. Damit ver­schwin­den aber auch die von die­sen Wor­ten reprä­sen­tier­ten Phä­no­me­ne. Sie gera­ten außer Reich­wei­te unse­rer Wahr­neh­mun­gen und ver­schwin­den jen­seits unse­res Vor­stel­lungs­ver­mö­gens. — Man wird ohne Sank­tio­nen nicht ein­mal mehr nach ihnen fragen.

    John Col­lier (1850–1934): Col­lier: Priest­ess of Del­phi (1891). — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia.

    Sie sind dann nicht mehr wahr­nehm­bar und auch nicht mehr mit­teil­bar. Es sind bemer­kens­wer­te dia­lo­gi­sche und dis­kur­si­ve Anfor­de­run­gen, die wir tag­täg­lich erfül­len, um im inne­ren Thea­ter unse­res kon­sen­su­al koor­di­nier­ten Vor­stel­lungs­ver­mö­gens die Kulis­sen solan­ge zu ver­schie­ben, bis wir ein­sichts­fä­hig wer­den. — Wie anspruchs­voll die­se Kunst eigent­lich ist und wor­auf es dabei ankommt, läßt sich an einem inter­es­san­ten Bei­spiel demonstrieren:

    Fran­ci­ne Pat­ter­son, Forschungs–Direktorin der Kali­for­ni­schen Goril­la Foun­da­ti­on, hat­te in rund 25 Jah­ren ein Gorillaweib­chen namens Koko mit einer Zei­chen­spra­che im Umfang von etwa tau­send Zei­chen ver­traut gemacht, nebst eini­ger eng­li­scher Laut­wör­ter, um sich auf die­se Wei­se mit ihr ver­stän­di­gen zu können.

    Ein Inter­net­pro­vi­der insze­nier­te dar­auf­hin als Wer­be­gag die Mög­lich­keit, mit Koko via Inter­net zu kom­mu­ni­zie­ren. Die Fra­gen soll­ten in die Zei­chen­spra­che über­setzt, Kokos Ant­wor­ten von Mit­ar­bei­tern am Ter­mi­nal ins Inter­net ein­ge­ge­ben werden.

    “Der Chat begann, Tali­ka faß­te sich als erste Mut: ›Hal­lo Koko, es ist eine Ehre, dich zu tref­fen.‹ Kokos Ant­wort war erstaun­lich: ›Gut hier.‹ Und als der Mode­ra­tor die ersten Fra­gen ein­sam­mel­te, husch­te ein ent­schie­de­nes ›Koko liebt Essen!‹ über die Bild­schir­me. (…) Ob sie Vögel mag, woll­te einer wis­sen. Koko ging zum Fen­ster, schau­te hin­aus, und mein­te plötz­lich: ›Fake‹. Das kommt immer dann, wenn von Din­gen die Rede ist, die nicht hier und jetzt prä­sent sind, erklär­te Dr. Pat­ter­son.” (Die­ter Grön­ling: ›Koko liebt Essen!‹ Fra­ge­stun­de mit einem Flach­land­go­ril­la im Inter­net. In: die tages­zei­tung, 30. April 1998. S. 20.)

    Man spricht offen­bar als Gorill­ada­me nicht über Abwe­sen­des, schon gar hin­ter dem Rücken der Din­ge, über Sachen und Lebe­we­sen, die im Augen­blick nicht ›da‹ sind. — Offen­bar fehlt das Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, so daß ein Fake dekla­riert wird, wenn Sachen nicht vor­han­den sind.

    Da nun die Gram­ma­tik zustän­dig ist für die Onto­lo­gie, wird bereits im Vor­feld dar­über befun­den, ob etwas ›exi­stent‹ ist oder aber nicht. Und über Nicht–Vorhandenes zu reden, ist doch Unsinn, oder? — Es ist, als wür­de die Gram­ma­tik bei Koko strei­ken und jeden Ver­such ver­ei­teln, etwas zur Spra­che zu brin­gen, das nicht wirk­lich, son­dern nur in der Vor­stel­lung ›ist‹.

    Dabei kön­nen Ima­gi­na­tio­nen zugleich vor­han­den und nicht vor­han­den sein, näm­lich in unse­rer Phan­ta­sie, die bei Bedarf auch flie­gen­de rosa­ro­te Ele­fan­ten zur Ver­fü­gung stellt. Inso­fern haben wir es bei Koko mit einem begrenz­ten Vor­stel­lungs­ver­mö­gen zu tun; Gren­zen, die wir als Men­schen anstands­los über­schrei­ten. — Aber es ist nicht ein­fach, sich Phan­ta­sie als sol­che über­haupt vorzustellen.

    Bewußt­sein läßt sich als System beschrei­ben, das mit einer gro­ßen Viel­falt von unter­schied­li­chen Beob­ach­tungs­be­ob­ach­tun­gen ope­riert. Dabei geht es um Blick­win­kel, Per­spek­ti­ven und Dif­fe­ren­zen, die gegen­ein­an­der und mit­ein­an­der ins Ver­hält­nis oder auch in Kon­trast gesetzt wer­den. — Die­ses Beob­ach­ten von Wahr­neh­mungs­wahr­neh­mun­gen kann ad Infi­ni­tum immer kom­ple­xer wer­den, vom ein­fa­chen Bewußt­sein über das Selbst­be­wußt­sein, bis hin zum Geist.

    Dem­nach gibt es stets ein Bewußt­sein, das aus ande­rer War­te ein ande­res in sei­ner Wahr­neh­mung beob­ach­tet. Erst dadurch wird die­se Wahr­neh­mung ihrer­seits ›bewußt‹. — Ich weiß dann nicht ein­fach nur, son­dern ich weiß, daß ich etwas weiß, des­sen ich mir bewußt bin.

    Dar­in liegt einer der wesent­li­chen Unter­schie­de zu den Tie­ren: Es ist uns durch Erle­ben im eige­nen Vor­stel­lungs­ver­mö­gen mög­lich, so zu ver­fah­ren, als wären wir ›mit­ten­drin‹, inmit­ten der Ereig­nis­se. — Dabei wis­sen wir zugleich, daß alles ›nur‹ ima­gi­niert ist, daß es rei­ne Phan­ta­sie­wel­ten sind.

    Aller­dings kön­nen wir in und mit die­sen ima­gi­nä­ren Wel­ten unse­ren gei­sti­gen Hori­zont ganz beträcht­lich erwei­tern. Wir kön­nen alle erdenk­li­chen Erleb­nis­se, Erfah­run­gen und Beob­ach­tun­gen machen, die von erheb­li­cher Bedeu­tung sein können.

    Phan­ta­sie ist eine erstaun­li­che Fähig­keit, die nicht genug gewür­digt wer­den kann. Der­weil liegt die eigent­li­che Kunst dar­in, eini­ger­ma­ßen ›kon­struk­tiv‹ zu ima­gi­nie­ren, um dann mög­lichst genau dar­über zu sprechen.

    Quad­re ’L’art de la con­ver­sa’, de René Magrit­te. Expo­si­ció de Caix­afòrum a Bar­ce­lo­na, març de 2022.—Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Die­se Illu­stra­ti­on bewußt mira­ku­lös. Unschwer ist zu erken­nen: Es ist ein ‘Magrit­te’. Aber nicht die­ser ist hier das The­ma oder sein Sur­rea­lis­mus, auch die­ser steht nicht im Zen­trum. Tat­säch­lich han­delt es sich um den Aus­schnitt aus dem Kata­log einer Kunst­aus­stel­lung über René Magrit­te in Bar­ce­lo­na. Die Gemälde–Beschriftung lie­fert dazu einen siche­ren Anhalts­punkt. — Die­ses gan­ze Arran­ge­ment soll illu­strie­ren, daß wir hoch­kom­ple­xen Zusam­men­hän­ge ›lesen‹, ›inter­pre­tie­ren‹, ›deu­ten‹ und ›ver­ste­hen‹ können.

    Daher rührt aber auch eine bis heu­te nach­wir­ken­de Urangst, weil unse­re Alt­vor­de­ren auf ›fre­vel­haf­te‹ Wei­se die Auto­ri­tät der Instink­te miß­ach­tet und durch Spra­che und Ima­gi­na­ti­on die Gren­zen der tie­ri­schen Lebens­wel­ten über­tre­ten und über­wun­den haben.

    Das Ima­gi­na­ti­ons­ver­mö­gen erlaubt uns, auch Abwe­sen­des zur Spra­che zu brin­gen, als Kom­pen­sa­ti­on für die ver­lo­re­ne Instinkt­si­cher­heit. — So sind wir uns in der Vor­stel­lung selbst immer einen Schritt vor­aus, aber auch nur sel­ten ›eins mit uns selbst‹.

    So wur­den neue Mög­lich­kei­ten eröff­net, sich selbst ori­en­tie­ren zu kön­nen, etwa durch Erfah­rungs­aus­tausch und durch Wei­ter­ga­be von Wis­sen. Kul­tur wur­de als etwas völ­lig Neu­es erschaf­fen, als Gegen­welt zur Natur. — Dabei wur­den die Vor­aus­set­zun­gen geschaf­fen für ein Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, mit dem es mög­lich wur­de, sich in der gan­zen Welt selbst ori­en­tie­ren zu können.

    Down­load der PDF

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Emanzipation,  Ethik,  Feminismus,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Leib,  Moral,  Motive der Mythen,  Philosophie,  Platon,  Professionalität,  Psyche,  Psychosophie,  Religion,  Schönheit,  Schuld,  Seele,  Theorien der Kultur,  Traum,  Urbanisierung der Seele,  Wahrheit,  Zeitgeist

    Was tun, wenn ‘die’ Frau wütend ist?

    Michail Ser­ge­je­witsch Gor­bat­schow, der ehren­wer­te und letz­te Staats­prä­si­dent der Sowjet­uni­on, hat­te bekann­ter­ma­ßen ein äußerst inni­ges Ver­hält­nis zu sei­ner Frau Rais­sa Maxi­mow­na Gorbatschowa. 

    Man hat ihn spä­ter hier in Mün­ster des­öf­te­ren am Aasee spa­zie­ren gese­hen, als sei­ne Frau, übri­gens eine Phi­lo­so­phin, mit dem Krebs kämpf­te.

    Bei­de kann­ten sich lang und waren, wie es nur weni­ge Paa­re fer­tig brin­gen, wirk­lich ein Team. In ihr hat­te er eine unbe­stech­li­che Rat­ge­be­rin, so wie es Pla­ton idea­li­siert hat. Er stellt die Phi­lo­so­phen­kö­ni­ge vor wie wel­che, die ein­fach des­we­gen nicht bestech­lich sind, weil sie schon “alles” haben, was nicht mit Geld zu bezah­len ist.

    Gor­bat­schows Ver­zweif­lung über ihren Tod dürf­te nicht min­der groß gewe­sen sein, wie die ange­sichts der schier unlös­ba­ren Auf­ga­be, den Sau­ri­er Sowjet­uni­on mit einem heim­tückisch tak­tie­ren­den Westen im Nacken den­noch wie­der auf Kurs zu brin­gen. Von wegen kei­ne Ost­erwei­te­rung der NATO, von wegen “gemein­sa­mes Haus Europa”.

    Ein Putsch mach­te alle Hoff­nun­gen zunich­te und brach­te einen Trun­ken­bold wie Jel­zin ans Ruder und Olig­ar­chen, die sich das ehe­ma­li­ge Volks­ver­mö­gen unter den Nagel geris­sen haben. Im Wind­schat­ten die­ser Ver­wer­fun­gen fand Putin als Nach­fol­ger sei­nen Weg zur Macht, der das alles natür­lich als demü­ti­gen­de Kata­stro­phe emp­fun­den hat.

    Gustav Klimt: Umarmung (1909).
    Gustav Klimt: Umar­mung (1909).

    Aber nun zur Fra­ge: Was hat Gor­bat­schow gemacht, wenn Rais­sa Maxi­mow­na Gor­bat­scho­wa wütend war? Er hat es in einem Inter­view selbst aus­ge­plau­dert und für mich klang es auch ein wenig wie eine Emp­feh­lung, was denn nun männ­li­cher­seits zu tun sei in sol­chen Fäl­len, wenn “die” Frau außer sich ist vor Wut.

    Er habe sie in sei­ne Arme genom­men und fest umschlos­sen, um sie auch bei Gegen­wehr ganz nahe fest zu hal­ten, bis sich der Zorn, die Wut und die Ver­zweif­lung wie­der leg­ten. — Das scheint in der Tat hilf­reich zu sein, denn ich habe gese­hen, daß es ins­be­son­de­re bei Kin­dern und Men­schen in psy­chi­schen Aus­nah­me­zu­stän­den posi­tiv wir­ken kann, ein­fach nur “gehal­ten zu wer­den”, bis es wie­der bes­ser geht.

    Der Grund dürf­te dar­in lie­gen, daß die Wut selbst zum Aus­druck gebracht wer­den kann: Anfangs wehrt sie sich viel­leicht noch vehe­ment gegen die macht­vol­le Umklam­me­rung. Der Zorn wird also anfangs immer stär­ker, bis er selbst sein Limit erreicht hast, denn er kann ja nun aus­ge­lebt wer­den. All­mäh­lich ver­aus­gabt sich der Zorn jedoch, dann er kann den inne­ren Druck wie durch ein Ven­til ablas­sen. 

    Es mag einen ande­ren Ein­druck machen aber es ist kei­ne Gewalt, es ist eher wie der Schutz vor wei­te­ren Zor­nes­aus­brü­chen. Das wird mög­lich, weil die Wut und die mit ihr ein­her­ge­hen­de Ver­zweif­lung nun ihren Aus­druck gefun­den hat und mit­ge­teilt wer­den kann. 

    Wer zu woke ist, den bestraft das Leben

    Aber wie es in die­sen des­ori­en­tier­ten Zei­ten üblich ist, wer­den man­che ganz gewiß jetzt Zeter und Mor­dio schrei­en: Ist das nicht Gewalt gegen die Frau? — Oh je.

    Wer zu woke ist, den bestraft das Leben. — Die For­mel stammt übri­gens nicht von ihm, son­dern von einem sei­ner Spre­cher. Das geflü­gel­te Wort wur­de zum Ora­kel­spruch. Es fiel auf einem infor­mel­len Tref­fen mit Pres­se­ver­tre­tern beim Staats­be­such von “Gor­bi” in Ost­ber­lin: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

    Damit ist auch etwas dar­über gesagt, was das Leben aus­macht. Es bie­tet Gele­gen­hei­ten, die ver­tan sind, wenn sie nicht ergrif­fen wer­den. – Wir soll­ten Mög­lich­kei­ten für unse­re Sehn­süch­te dar­aus machen, die tief in uns schlum­mern, um wach­ge­küßt zu wer­den. Aber dazu braucht es Nähe, Ver­trau­en und wohl auch die Gewiß­heit, daß alles wie­der gut wer­den kann. 

  • Identität und Individualismus,  Ironie,  Kunst,  Künstler,  Moderne,  Motive der Mythen,  Philosophie,  Professionalität,  Psyche,  Religion,  Schönheit,  Seele,  Traum,  Zeitgeist

    Kunst als Traumarbeit

    Langsame Annäherung

    Es gibt eine Instal­la­ti­on der Bild­haue­rin Miri­am Jonas, die sich bei der Betrach­tung erst ganz all­mäh­lich erschließt. Dabei ist es wesent­lich, sich die­sem Werk aus der Distanz mit mäßi­gem Schritt anzu­nä­hern.

    Auf wei­ßer Flä­che sind in Mustern ange­brach­te, eckig–abgerundete oder auch ova­le Objek­te zu sehen, die nicht auf­ge­malt, son­dern auf­ge­setzt sind. — Aller­dings sind die 75 Objek­te die­ser Wand­ar­beit muster­gül­tig aufgebracht.

    Miri­am Jonas: Pol­ka Popes. Wand­in­stal­la­ti­on aus 75 Tei­len, Pla­sti­lin, Fisch­kon­ser­ven­do­sen, Acryl­glas, Holz. Maße: 260 x 415 cm; Bar­ce­lo­na, Mün­ster 2011. — Quel­le: Miri­am Jonas: www​.miriam​jo​nas​.de/​P​o​l​k​a​-​P​o​pes.

    Die Anord­nung ent­spricht den Pol­ka Dots, einem Stoff­mu­ster, das im 19. Jahr­hun­dert in Eng­land auf­kam: Gefüll­te Punk­te, die auf eng­stem Raum ver­teilt ein regel­mä­ßi­ges Muster abge­ben. — Die Wahr­neh­mung beginnt zu flim­mern, weil das Hirn changiert.

    Es kann offen­bar nicht eigen­mäch­tig ent­schei­den, wel­che Ord­nung denn nun vor­herr­schen soll. So geht es dann hin und her, bis die Punk­te zu tan­zen beginnen…

    Kunst, Design und Kitsch

    Der Unter­schied zur Kunst ist die See­len­lo­sig­keit beim Kitsch, weil es kein Ein­ge­den­ken ist, son­dern ledig­lich sinn­frei­es Andenken.

    Der Unter­schied zwi­schen Kunst und Design liegt dar­in, daß der Anspruch auf Bedeu­tung zum Fetisch erho­ben wird. — Tat­säch­lich gehen die exklu­siv insze­nier­ten Ambi­tio­nen jedoch nicht auf, weil es nur Simu­la­tio­nen von Sinn sind, die kei­ne See­le und auch kei­nen Geist zum Blei­ben ani­mie­ren könnten.

    Die Pol­ka Popes von Miri­am Jonas gehen auf eine Begeg­nung der Künst­le­rin mit der spa­ni­schen Folk­lo­re und der Volks­kul­tur in Bar­ce­lo­na zurück. — Es ist selbst wie ein Traum, was die­ses Werk in Sze­ne setzt, denn das macht Träu­me so bemer­kens­wert: Sie brin­gen ganz mühe­los unter­schied­li­che Sachen zusam­men, die eigent­lich von­ein­an­der geschie­den sind.

    Der­weil wird in die­sem Werk das Kunst­schaf­fen selbst the­ma­ti­siert. Ambi­va­len­zen wer­den auf­ge­fä­chert, über­ra­schen­de Ver­bin­dun­gen wer­den geknüpft. — Die Fas­sun­gen der ver­meint­li­chen Edel­steine ent­pup­pen sich bei nähe­rem Hin­se­hen als Fisch­kon­ser­ven, und die Gem­men dar­in sind nicht aus Horn oder Edel­stein, son­dern aus kind­ge­rech­tem Pla­sti­lin, gehal­ten in der Palet­te authen­ti­scher Quietsch­far­ben.

    Genau auf die­se Wei­se arbei­ten auch Träu­me, wenn sie auf der Grund­la­ge zunächst will­kür­lich erschei­nen­der Arran­ge­ments ganz über­ra­schen­de Ver­bin­dun­gen her­stel­len, die aller­dings zu lesen und noch mehr zu deu­ten und zu ver­ste­hen geben. — Es ist ein inte­ressan­ter Hin­weis, wenn ein Traum in Bar­ce­lo­na erwähnt wird.

    Träume erschaffen ihre Wirklichkeit

    Träu­me haben die Lizenz, ihre eige­ne Wirk­lich­keit zu kon­stru­ie­ren. Dabei sind sie mäch­tig genug, alles Erdenk­li­che über­ra­schend zusam­men­zu­fü­gen. Im Traum scheint es so, als wäre es voll­kom­men selbst­ver­ständ­lich, mit traum­wand­le­ri­scher Sicher­heit das eine mit etwas voll­kom­men ande­rem zu kom­bi­nie­ren, um damit etwas zu ver­ste­hen zu geben.

    Hin­ter den Träu­men ste­hen Bot­schaf­ten, wenn mit Über­tra­gun­gen, Alle­go­rien und Sym­bo­len bemer­kens­wer­te Umbe­set­zun­gen vor­genom­men wer­den, die spek­ta­ku­lär sein kön­nen in ihrer Bedeu­tung, wenn man die Traum­ar­beit zu deu­ten versteht.

    So etwas geschieht auch in die­sem Werk: Die ein­zel­nen Bestandtei­le sind muster­gül­tig nach Art der Pol­ka Dots arran­giert, so daß die Objek­te bald aus der Rei­he tan­zen, kind­lich und doch wie­der nicht ganz so unschul­dig, weil sie viel­leicht auch nur so tun.

    Im Traum wird alles zum Zei­chen, nichts muß sein und bedeu­ten, als was und wie es erscheint. — Schließ­lich kann auch das Kokettie­ren mit Unschuld selbst wie­der Ero­tik her­auf­be­schwö­ren. Nicht von unge­fähr ist daher die­ses Muster äußerst beliebt bei Des­sous, denn beim Spiel mit der Unschuld geht es auch um Koketterie.

    Die Pol­ka Popes von Miri­am Jonas arran­gie­ren unter­schied­li­che Aspek­te zu einem künst­le­ri­schen Traum. — Ent­schei­dend ist nicht nur daß, son­dern auch wie es ein Kunst­werk fer­tig­bringt, ein derarti­ges Netz bezie­hungs­rei­cher Span­nun­gen zu erzeu­gen, zwi­schen Ord­nung und Frei­heit, Kunst und Kitsch, Ori­gi­nal und Fäl­schung, zwi­schen dem Hei­li­gen und dem Profanen.

  • Anthropologie,  Diskurs,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Kunst,  Künstler,  Moderne,  Philosophie,  Professionalität,  Psyche,  Religion,  Schönheit,  Seele,  Theorien der Kultur,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Hermeneutik

    Verstehen ist kreativ

    Nicht nur auf der Büh­ne, auch im Publi­kum wird man sich eini­ges ein­fal­len las­sen müs­sen, um zu ver­ste­hen. Wer sich dabei selbst auf der Lei­tung steht, hat das Nach­se­hen. — Wer sich dabei aber über die eige­ne Schul­ter schaut, betreibt die Kunst des Ver­ste­hens: Hermeneutik. 

    Miri­am Jonas: Pol­ka Popes. Wand­in­stal­la­ti­on aus 75 Tei­len, Pla­sti­lin, Fisch­kon­ser­ven­do­sen, Acryl­glas, Holz. Maße: 260 x 415 cm; Bar­ce­lo­na, Mün­ster 2011. — Quel­le: Miri­am Jonas: www​.miriam​jo​nas​.de/​P​o​l​k​a​-​P​o​pes.

    Es kommt beim Ver­ste­hen dar­auf an, nicht ein­fach nur zu hören oder zu schau­en, son­dern der eige­nen Vor­stel­lung dabei zuzu­se­hen, wie sie von uns selbst zustan­de gebracht wird. Wir kön­nen das! 

    Wir kön­nen allen Ern­stes pro­to­kol­lie­ren, was man in wel­cher Rei­hen­fol­ge gese­hen, gefühlt und gedacht hat. — Es gibt tat­säch­lich Log­bü­cher im Hirn, in denen alles auf­ge­zeich­net ist. Wer mag, kann sogar dar­in blättern. 

    Unser Bewußt­sein ist ein Netz­werk von Beob­ach­tungs­be­ob­ach­tun­gen. Da wird nicht ein­fach irgend etwas nur gese­hen, son­dern die­ses Sehen muß wie­der­um “gese­hen” wer­den. Nur dann kann es über­haupt als “wirk­lich” emp­fun­den wer­den, nur dann zählt es über­haupt. Anson­sten könn­ten wir uns alles Mög­li­che ein­fach nur einbilden. 

    Es ist mit etwas Übung mög­lich, sich selbst beim Ver­ste­hen über die Schul­ter zu sehen. Man kann sogar den “Betriebs­funk” abhö­ren und sich einklin­ken in die Rou­ti­nen der inne­ren Verständigungsprozeduren.

    Ver­ste­hen ist selbst ein krea­ti­ver Pro­zeß. Etwas Bedeu­tungs­vol­les nur wahr­neh­men und auf Anhieb ver­ste­hen, das kön­nen nur Göt­ter. — Was Göt­tern mühe­los zufällt, dazu müs­sen wir uns aller­dings auch erst auf den Weg machen. 

    Dazu haben wir sie schließ­lich kre­iert, um uns Idea­le zu bie­ten, in denen wir uns spie­geln kön­nen, um zu sehen, wie weit wir schon sind, wenn wir wis­sen wol­len, ob und inwie­fern wir ihnen als Ideal–Selbst schon das Was­ser rei­chen können. 

    Wer also Wert legt auf ein beson­de­res Urteils­ver­mö­gen, wer etwas Eige­nes sein und sagen möch­te, soll­te sich dar­auf ein­las­sen, beim Ver­ste­hen lan­ge Wege mit vie­len Sta­tio­nen zu neh­men. Das “Heu­re­ka” mag am Ende ste­hen und in einem ein­zi­gen Augen­blick aus­ge­ru­fen wer­den, es ist aber die Krö­nung für einen gan­zen Prozeß. 

    Ver­ste­hen ist weit mehr als nur das Lösen eines Rät­sels, ent­schei­dend sind Selbst­be­geg­nun­gen. Wir erfah­ren sehr viel über uns selbst, sobald wir uns beim Wahr­neh­men, Deu­ten und Ver­ste­hen selbst beob­ach­ten und begegnen. 

    Es ist erstaun­lich, dem eige­nen Emp­fin­den, Ver­ste­hen und Reflek­tie­ren bei der Arbeit zuzu­se­hen. Man kommt sich dann vor wie der Eigen­tü­mer einer Fabrik, in der Wahr­neh­mun­gen pro­du­ziert wer­den, die auf Sinn hin aus­ge­legt sind. 

    Wer sol­che Wag­nis­se unter­nimmt, wird belohnt mit Erfah­run­gen auf der Meta–Ebene. Es sind Selbst­er­fah­run­gen, die per­sön­li­cher, inten­si­ver und tie­fer nicht sein könnten.

    Ich bin soeben im Netz der Net­ze auf Fotos von einem Kunst­werk gesto­ßen, das ich vor­zei­ten bespro­chen habe. — Die Begeg­nung fand rein zufäl­lig statt, auf einer Aus­stel­lung in der Kunst­aka­de­mie Münster.

    Und im Semi­nar über “Die Schön­heit der See­le” ging es am letz­ten Frei­tag um “Her­me­neu­tik” und die “Kunst des Ver­ste­hens”. Das hat mich dar­auf gebracht, die­sen alten Spu­ren noch ein­mal nach­zu­ge­hen. — Das hat wie­der­um dazu geführt, daß ich den Text aus dem Jah­re 2011 über­ar­bei­tet und vor allem mit den damals noch nicht öffent­lich erhält­li­chen Fotos ver­se­hen habe. 

  • Corona-Diskurs,  Diskurs,  Emanzipation,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Lüge,  Moderne,  Philosophie,  Platon,  Wahrheit

    Meisterdenker in Platons Höhle

    So leicht ist Philosophie nicht

    Es ent­behrt nicht einer gewis­sen Komik, wenn in Pla­tons Höh­le phi­lo­so­phiert wer­den soll und sich alle für Mei­ster­den­ker hal­ten. — Aber kein Mensch bemerkt bei die­ser ganz und gar nicht akzep­ta­blen Seminar–Moderation in die­sem Clip, daß der Stu­dent sich mit­nich­ten anpaßt, um ein­fach nur die “Mei­nung” der Mehr­heit zu über­neh­men. Das Pro­blem ist viel komplexer.

    Man kann sehen, wie es in ihm arbei­tet, denn er weiß, daß irgend­was gene­rell nicht stimmt. — Also sucht er nach den Regeln für das ver­meint­li­che Sprach­spiel, das hier womög­lich läuft. Er kommt aber zu kei­nem Resul­tat, daher sagt er mit eben­so fru­strier­tem, wie trot­zi­gem Ton­fall: Erdbeer–Rot.

    Es bleibt ihm nichts ande­res, als gute Mie­ne zum bösen Spiel zu machen. — Er weiß näm­lich nicht, was wir als Beob­ach­ter längst wis­sen, daß es gar kein Sprach­spiel gibt, son­dern nur eine ganz bana­le Verschwörung.

    Da hat sich also eine gan­ze Grup­pe geschlos­sen dazu ver­lei­ten las­sen, jeman­den vor­zu­füh­ren in der grau­sa­men Art, wie Kin­der es lie­ben, weil es so gru­se­lig ist. — Haupt­sa­che es erwischt einen selbst nicht. Und solan­ge man auf Sei­ten der Täter ist, kann man ja selbst nicht zum Opfer wer­den, oder etwa doch? 

    Das Dra­ma­ti­sche an die­ser ver­meint­li­chen “Rei­ni­gung” hat etwas Reli­giö­ses: Man schließt ande­re aus, um die Grup­pe vom “Übel” rein­zu­wa­schen, bei­spiels­wei­se vom Opportunismus–Verdacht, um dann ein Exem­pel an einem Sün­den­bock zu sta­tu­ie­ren. Und alle füh­len sich eben­so wei­se wie unwohl, weil sie gar nicht rea­li­sie­ren, daß sie jetzt nur der Teil einer grau­sa­men Ver­schwö­rung gewor­den sind, aber nicht wirk­lich etwas fürs Leben gelernt haben, außer, daß es grau­sam zugeht. 

    Und der, der zu spät kam, den bestraf­te das Leben. — Aller­dings hat er Rede­be­darf signa­li­siert. Er woll­te sich kon­kret zum Vor­wurf äußern, in fla­gran­ti beim Oppor­tu­nis­mus erwischt wor­den zu sein. Er wird jedoch gna­den­los abge­würgt. Das grenzt an Mob­bing und ist selbst bereits unethisch, weil da einer stumm gemacht und ein­fach nur vor­ge­führt wer­den soll.

    Und die­se auto­ri­tä­re, wich­tig­tue­ri­sche Dozen­tin geht ein­fach über alles hin­weg, denn sie will genau die­se Insze­nie­rung. Die­ser Stu­dent ist eben Opfer und jetzt soll er sich mal nicht so haben. 

    Die Dozen­tin hat ihre Show so, wie sie sie woll­te. Und sie will sich ihren ver­meint­li­chen Erfolg nicht wie­der abspen­stig machen las­sen. Daher würgt sie den not­wen­di­gen Dis­kurs ein­fach ab, um zu demon­strie­ren, daß der Posi­ti­vis­mus die ein­zig wah­re Erkennt­nis­theo­rie ist und alles ande­re nur Ideo­lo­gie sei.

    Ein nai­ver Rea­lis­mus, der vom Kon­struk­ti­vis­mus und vom Per­spek­ti­vis­mus voll­kom­men unbe­leckt ist, soll also das Maß aller Din­ge sein? Der Glau­be an die Natur­wis­sen­schaf­ten soll uns erret­ten und nicht die Selbst­er­fah­rung in der Selbstorientierung?

    Was hier vor­ge­führt wird, ist kei­ne Phi­lo­so­phie, son­dern selbst wie­der nur Ideo­lo­gie. Es geht zu, wie in der Sonn­tags­schu­le, alle sind lieb aber weni­ge sind böse. 

    Und das Gan­ze unter dem Hash­tag #Erwa­che? – Da wür­de ich sagen: #Schlaftwei­ter!

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Leib,  Lüge,  Moderne,  Moral,  Philosophie,  Platon,  Psyche,  Psychosophie,  Schuld,  Seele,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Wahrheit,  Zeitgeist

    ‘Habitus’ bedeutet Charakter

    Bildung braucht eine Grundlage

    Ich habe noch immer den Ein­druck, seit Beginn der Corona–Hysterie in einem Par­al­lel­uni­ver­sum gelan­det zu sein.

    Im Nach­gang ver­schie­ben sich die Bewer­tun­gen die­ser Panther–Zeit, in der man die Git­ter­stä­be der Angst–und–Moral–Republik stän­dig vor Augen hat­te. — Viel zu vie­le haben sich in die­sen Jah­ren um Kopf und Kra­gen geredet.

    Aber mei­ne Bewer­tun­gen die­ser Mas­sen­psy­cho­se ver­schie­ben sich inzwi­schen nicht mehr so stark, und ich muß zuge­ben: Das Resul­tat die­ser kol­lek­ti­ven Angst­kam­pa­gne war für mich ver­hee­rend, denn ich muß­te einen Gut­teil mei­nes Idea­lis­mus aufgeben.

    Mei­ne Ent­täu­schung über den kol­lek­ti­ven Ver­rat an Wer­ten wie Frei­heit, Tole­ranz, Mei­nungs­frei­heit, Selbst­be­stim­mung und Wür­de, hat mich zutiefst ver­stört. Das hät­te ich nicht für mög­lich gehalten!

    Aber die Panter–Zeit hat­te auch ihr Gutes, wir haben alle das Zoo­men erlernt, konn­ten ein­an­der tief in die See­le schau­en und haben gese­hen, mit wem wir es wirk­lich zu tun haben.

    Und die Dia­gno­se fällt kri­tisch aus: Den mei­sten fehlt so etwas wie Per­sön­lich­keit, was der fran­zö­si­sche Sozio­lo­ge Pierre Bour­dieu in sei­ner Theo­rie “Die fei­nen Unter­schie­de” als “Habi­tus” bezeich­net, beschrie­ben und näher aus­ge­führt hat.

    Ich hät­te es wis­sen kön­nen, weil ich ihn schon im Stu­di­um gele­sen und mir zu Her­zen genom­men hat­te. Aber ich woll­te nicht, daß der Gro­schen auch fällt, wohl aus Idea­lis­mus woll­te ich es nicht.

    Das Erzie­hungs­ziel einer “Bil­dung der Per­sön­lich­keit” ist und bleibt eli­tär, weil es um einen Habi­tus geht, den man sich auch her­aus­neh­men kön­nen muß. — Man­che neh­men sich das ein­fach her­aus, wenn und weil es ja nun mal “stan­des­ge­mäß” für sie ist.

    Ande­re ste­hen sich selbst dabei bereits auf der Lei­tung und noch ande­re, die Viel­zahl der nicht­den­ken­den Mit­men­schen, sieht das Pro­blem nicht einmal.

    “Gebt dem Volk Brot uns Spie­le”. Ja, den mei­sten Zeit­ge­nos­sen man­gelt es nicht nur an Selbst­be­wußt­sein, Selbst­be­stim­mungs– und Selbst­ori­en­tie­rungs­ver­mö­gen, sie haben auch kei­nen Zugang zu ihrem eige­nen Leib. Sie sehen nur den Kör­per, den sie dann checken, bear­bei­ten oder auch repa­rie­ren lassen.

    Der Unter­schied besteht eben, wie Hel­muth Pless­ner gesagt hat, “zwi­schen Kör­per haben und Leib sein”. — Daher las­sen sich die Vie­len auch so tief verängstigen.

    Franz von Stuck: Til­la Durieux als Cir­ce, 1931.

    Sie sehen nur ihren Kör­per und ihre Psy­che, sehen aber nicht auch den Geist, den Leib und die See­le. Sie wol­len auch nur Sex und kei­ne Ero­tik. — Ach, es ist erbärmlich.

    „Der Mensch will über den Men­schen hin­aus“, — eigent­lich ja. Man den­ke doch nur an Pla­ton und Nietz­sche, die das so ein­drucks­voll und ein­dring­lich vor Augen geführt haben.

    Aber vie­le fol­gen nicht ihrer See­le, son­dern nur den viel zu ober­fläch­li­chen Inter­es­sen einer Psy­che, die “Haben mit Sein” mit­ein­an­der ver­wech­selt. Viel zu vie­le las­sen sich bereit­wil­lig lei­ten von den ästhetisch–moralischen Kon­sum­wel­ten der angeb­lich „Schö­nen und Reichen“.

    Wenn dar­in ganz offen­bar die aller­mei­sten Zeit­ge­nos­sen ihre Lebens­zie­le sehen und sogar fin­den, dann kann ich sie nicht mehr ernst nehmen.

    Als ich vor lan­ger Zeit noch Ethik–Unterricht für Poli­zei­be­am­te an der FH für öffent­li­che Ver­wal­tung in Dort­mund gab, hat­te ich irgend­wann bereits die­ses Kon­zept für mich als Arbeits­grund­la­ge: Ich hole die Men­schen ab, wo sie ste­hen, aber ich fah­re nicht bis unter die Erde!

    Wer unter­ir­disch ist und es auch sein und blei­ben will, soll es sich wohl erge­hen las­sen in der Höh­le. Und kein Phi­lo­soph wird sie bei ihren hei­li­gen Hand­lun­gen in der Kon­sum­höl­le stören.

    Die Basis für einen eige­nen Habi­tus, so daß man selbst­ver­ständ­lich einen Men­schen ernst neh­men kann, muß sich schon jeder selbst schaf­fen. — Die See­le macht das Spiel.

  • Emanzipation,  Götter und Gefühle,  Ironie,  Kunst,  Leib,  Moral,  Motive der Mythen,  Philosophie,  Platon,  Psyche,  Schönheit,  Schuld,  Theorien der Kultur,  Wahrheit,  Zeitgeist

    Harry und Meghan

    Über die Sprengkraft einer Lovestory

    Der Lie­bes­gott Amor ist ein Sohn der Göt­tin der Lie­be und dem Gott des Krie­ges, also Venus und Mars. — Mythi­sche Figu­ren sind immer auch Alle­go­rien, was bedeu­tet, daß sie etwas abbil­den, was eigent­lich alle vor Augen haben, sich aber nur schwer sagen läßt. Also bringt man es auf eine die­ser Göt­ter­fi­gu­ren und hat dann auch noch einen Cha­rak­ter dazu.

    Michel­an­ge­lo Meri­si da Cara­vag­gio: Amor als Sie­ger, 1601.

    Cupi­do, wie er bei den Römern genannt wird, hat immer einen Köcher mit Pfei­len bei sich. Schnell wie der Wind, taucht er urplötz­lich auf, und nach der Tat ist er eben­so schnell auch schon wie­der weg.

    Er ist ein Hecken­schüt­ze, so daß sei­ne Opfer, ob sie wol­len oder nicht, in Lie­be ent­flam­men. Dabei schießt er mit zwei­er­lei Pfei­len, mit gol­de­nen– für die erwi­der­te, mit blei­er­nen Pfei­len für die uner­wi­der­te Liebe.

    Man soll­te dabei an den lächer­li­chen Pro­fes­sor Unrath den­ken, aus Hein­rich Manns “Blau­em Engel” und den Film, in dem Mar­le­ne Diet­rich die Rol­le ihres Lebens fand.

    Am Ende wird der Pro­fes­sor sich nütz­lich machen, um der von ihm Ange­be­te­ten feschen Lola nahe zu sein, sich aber voll­kom­men lächer­lich machen. Es ist der Absturz einer aller­dings des­po­ti­schen Auto­ri­tät, was die ehe­ma­li­gen Schü­ler im Publi­kum mit ober­fläch­li­chem Gau­di gou­tie­ren, ohne das doch auch Tra­gi­sche dar­an über­haupt zu bemerken.

    Alle Details einer Alle­go­rie sind nicht zufäl­lig, son­dern mit bedacht gewählt und kom­po­niert. — Amor ist noch ein rechts–unmündiges Kind, was bedeu­tet, daß er nicht zur Ver­ant­wor­tung gezo­gen wer­den kann für das, was er anrich­tet. Es soll­te sich also bit­te hin­ter­her nie­mand bekla­gen, der nun ein­mal in Lie­be ent­brannt ist und dann wer weiß was gemacht hat…

    Als leicht beklei­de­te Kna­be ist Amor stets mit Laus­bu­ben­ge­sicht unter­wegs. Cara­vag­gio macht dann mit guten Grün­den ein Sie­ger­lä­cheln dar­aus. — Ja, die Lie­be siegt gewis­ser­ma­ßen immer, selbst wenn sie unglück­lich ver­läuft und schluß­end­lich alles in Schutt und Asche liegt.

    Wenn Amor mit einem sei­ner Pfei­le trifft, dann wer­den die Getrof­fe­nen nicht nur von einer Lie­be ergrif­fen, der sie sich nicht erweh­ren kön­nen, son­dern sie haben dann auch die damit ein­her­ge­hen­den Pro­blem am Hals. — Die Alle­go­rie die­ses kind­li­chen Got­tes bringt daher vor­züg­lich auf den Punkt, was die Lie­be gesell­schaft­lich eigent­lich ist: Pure Anarchie!

    Des­we­gen wird oft nichts dem Zufall über­las­sen, wobei viel Wert gelegt wird auf “stan­des­ge­mä­ße” Hoch­zei­ten etc. pp. — Des­we­gen wird Sex, von “frei­er Lie­be” ganz zu schwei­gen, ver­folgt wie die Pest. Dabei ist die Ero­tik selbst eigent­lich weni­ger das Pro­blem, aber die Lie­be, die dar­über auf­kommt, kann Ver­bin­dun­gen stif­ten, die nie und nim­mer hät­ten sein dürfen.

    Lie­be mag immer auch ein Anfang sein, ins­be­son­de­re für die Lie­bes­paa­re selbst, aber für Gemein­schaf­ten ist sie womög­lich das Ende eines lan­gen Burg­frie­dens. — Und genau das pas­siert immer wie­der, etwa bei Romeo und Julia, die sich als Abkömm­lin­ge zutiefst ver­fein­de­ter Clans inein­an­der ver­lie­ben, was daher ein böses Ende neh­men muß.

    Arche­ty­pi­sche Lieb­ha­ber Romeo und Julia por­trä­tiert von Frank Dick­see (1884).

    Gestif­tet wer­den sol­che Ver­bin­dun­gen also durch einen ver­ant­wor­tungs­lo­sen Hecken­schüt­zen, der Lie­bes­pfei­le ver­schießt und sich sonst kaum etwas dabei denkt. — So wie er drein­blickt, wirkt es eher, als wäre Lie­be nichts wei­ter als ein necki­sches Spiel.

    Das Sym­po­si­on von Pla­ton ist die­sem Eros, also dem Gott der Lie­be gewid­met. Der Text ist einer der wich­tig­sten der Mensch­heits­ge­schich­te, weil er so tief blicken läßt, nicht nur in die Lie­be selbst, son­dern auch in die Machen­schaf­ten, die sich dar­um her­um ran­ken. — Dazu gehört ins­be­son­de­re die Ver­ein­nah­mung Pla­tons durch Reli­gi­ons­füh­rer, die ernst­haft glau­ben machen wol­len, Pla­ton habe nur die nicht–erotische Lie­be geadelt und alle ande­ren For­men herabgewürdigt.

    Genau das ist nicht der Fall. Wie so oft fin­det sich bei Pla­ton auch in die­ser Ange­le­gen­heit wie­der das Bild von Stu­fen, die man schritt­wei­se neh­men soll­te, um dann mög­lichst unter Füh­rung der Phi­lo­so­phie, um zur Wahr­heit wie im Höh­len­gleich­nis oder zur Schön­heit wie im Sym­po­si­on auf­zu­stei­gen. — Daher steht auch das Gegen­teil von dem im Text, was die Reli­gi­ons­für­sten in ihrem Gries­gram und nicht sel­ten ohne Dop­pel­mo­ral seit Jahr­tau­sen­den verkünden.

    Wenn Sokra­tes in sei­ner Rede aus­gie­big von sei­ner legen­dä­ren Leh­re­rin namens Diot­ima erzählt und deren Phi­lo­so­phie der Lie­be sich offen­bar selbst zu eigen gemacht hat, dann hören wir das Gegen­teil von dem, was die Kir­chen so vehe­ment for­dern. — Tat­säch­lich ist Lie­be wie eine Dro­ge mit Neben­wir­kun­gen, die einen “hei­li­gen Wahn” aus­lö­sen. Das dürf­te dann auch das Motiv sein, war­um so vie­le Reli­gio­nen die Lie­be als sol­che ver­drän­gen, weil sie das Hei­li­ge ganz für sich und die eige­ne Insti­tu­ti­on allein bean­spru­chen wollen.

    Die­ser Dia­log beginnt wie ein jeder sokra­ti­scher Dia­log, nur dies­mal mit ver­tausch­ten Rol­len. Eigent­lich ist Sokra­tes immer der Held, der über stei­le The­sen, die kol­la­bie­ren müs­sen, wie sodann auch über sei­ne Gesprächs­part­ner lacht. Nun aber ist er in nicht in die­ser Posi­ti­on, son­dern sei­ne Gesprächs­part­ne­rin. Sie weiß ein­fach mehr, als der offen­bar noch jun­ge Sokra­tes, der ihr dann auch folgt in die­sem Dialog.

    Es beginnt sogleich mit einer höchst spek­ta­ku­lä­ren dia­lek­ti­schen Figur: Der Gott der Lie­be kön­nen gar kein Gott sein, weil er nicht wie die­se voll­kom­men ist, son­dern statt­des­sen mit einem fei­nen Gespür aus­ge­stat­tet sei für das, was ihm fehlt. — Lie­be zielt dem­nach auf die Attrak­ti­on des­sen, was fehlt und daher so anzie­hend ist.

    Daher sei der Lie­bes­gott auch kein Gott, son­dern nur ein Dämon, der übri­gens einer bei­gesteu­er­ten Erzäh­lung zufol­ge aus einer selbst mär­chen­haf­ten Ver­bin­dung zwi­schen Fül­le und Armut ent­stan­den sein soll.

    Dar­in stalkt die Armut den Reich­tum ganz gezielt am Ort einer opu­len­ten Festi­vi­tät. Sie hält sich bedeckt, bis der Rei­che höchst berauscht ins Freie tritt und unter einem Baum sei­nen Rausch aus­schläft. In die­ser Situa­ti­on macht sich die Armut an ihm so zu schaf­fen, daß sie Sex mit ihm hat, schwan­ger wird und den Eros gebiert. — Es ist berückend, wie lyrisch sich Mythen mit­un­ter geben können.

    Das Lie­bes­gift in den Pfei­len des Amor ist über­wäl­ti­gend. Da steht dann nicht sel­ten schon bald alles auf dem Spiel, und genau das ist das Anar­chi­sche und so oft Skan­da­li­sier­te an der Lie­be. — Man­che beherr­schen sich und ver­leug­nen die Lie­be aus vie­ler­lei Rück­sicht, aber man­che haben viel­leicht noch eine Rech­nung offen.

    Genau das steht im Hin­ter­grund der aktu­el­len Legen­den­bil­dung um Har­ry und Meg­han, ange­sichts einer Net­flix Serie über ihre Lie­bes– und Lei­dens­ge­schich­te. — Die­se Lie­be steht defi­ni­tiv unter dem Zei­chen der Tra­gö­die um Dia­na. Und die Trau­ma­ti­sie­rung des jun­gen Har­ry sei­ner­zeit durch den Tod sei­ner Mut­ter, ist das eigent­li­che Motiv der Handlung.

    Har­ry setzt Meg­han sei­ner Mut­ter gleich und rächt sich nun­mehr an allen, die sie sei­ner­zeit in den Tod getrie­ben haben. Als wäre er es ihr und sich selbst schul­dig, end­lich erwach­sen gewor­den, end­lich mit allen abrech­nen zu können.

    Psy­cho­lo­gisch ist die­ses Manö­ver übri­gens aus­ge­spro­chen hei­kel. Es ist näm­lich die Fra­ge, ob Meg­han eigent­lich sie selbst sein darf, ob sie nicht viel­mehr in die­ser Pro­jek­ti­ons­ar­beit völ­lig mar­gi­na­li­siert wird, was sich spä­ter ein­mal rächen dürf­te. Wer ist schon gern auf Dau­er nur ein Stellvertreter.

    Aber etwas ande­res geschieht zugleich. — Es ist eine fäl­li­ge Gene­ral­ab­rech­nung mit dem Bri­ti­schen Königs­haus und dem laten­ten Ras­sis­mus im Empire, das schon lang kei­nes mehr ist. Ohne­hin stehts das Ver­ei­nig­tes König­reich seit dem Brexit ohne­hin nicht mehr auf siche­ren Säulen.

    Da sieht man, wie sehr die freie Part­ner­wahl aus Grün­den der Lie­be dazu ange­tan ist, Pro­ble­me anzu­zei­gen, die schon immer rou­ti­niert über­spielt wor­den sind. Das ist der Anar­chis­mus der Lie­be, plötz­lich ver­fängt vie­les nicht mehr. 

    Irgend­wer fängt aus uner­find­li­chen Grün­den plötz­lich damit an, öffent­lich zu bekun­den, daß sich ein Ele­fant im Raum befin­det, über den nie­mand wil­lens ist, auch nur ein Wort zu ver­lie­ren. Das war auch Com­mon Sen­se bis­her. Aber jetzt ist der Ele­fant nun ein­mal erwähnt… 

    Wie sag­te noch der in Wor­ten stets spar­sa­me Kon­rad Ade­nau­er: “Die Situa­ti­on ist da!”

  • Anthropologie,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Kunst,  Künstler,  Leib,  Lüge,  Moral,  Philosophie,  Platon,  Politik,  Professionalität,  Psyche,  Psychosophie,  Schönheit,  Schuld,  Seele,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Wahrheit,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist

    Ich weiß, daß ich nichts weiß

    Über Urteilsvermögen im Umgang mit Nichtwissen

    Wer kennt die­se Selbst­aus­sa­ge nicht. – Aber wer hat wirk­lich ver­stan­den, was sie bedeu­tet? Ja, die Sen­tenz stammt von Sokra­tes und die mei­sten machen es sich zu leicht, wenn sie anneh­men, daß es Aus­druck sei­ner Beschei­den­heit ist. Irrtum!

    Sokra­tes ist ganz und gar nicht beschei­den, er will immer alles ganz genau wis­sen und geht dann bis an die Gren­zen des­sen, was über­haupt noch mög­lich ist. Nicht sel­ten steht er dann da, wie einst Keith Jar­rett bei einem Kon­zert in Ham­burg. – Der Flow kam ein­fach nicht und man kann ja nun die Göt­ter nicht zwin­gen, wenn sie offen­kun­dig ganz woan­ders was bes­se­res zu tun haben.

    Also hat er sich red­lich bemüht, ist dann auf­ge­stan­den und hat sich direkt ans Publi­kum gewandt mit der Fra­ge: “Ist hier ein Pia­nist, der das Kon­zert fort­set­zen kann?”

    In sol­chen Situa­tio­nen nei­gen die mei­sten Zeit­ge­nos­sen dazu, ins Glau­ben zu sprin­gen. Man gibt die Steue­rung aus der Hand und schal­tet das Den­ken auf Auto­pi­lot. Aber in Wahr­heit weiß man doch gar nicht, wo es hin­ge­hen soll. Und beur­tei­len, was man denn nun anneh­men oder gar glau­ben soll­te, kön­nen die wenig­sten, weil es ihnen an Urteils­fä­hig­keit fehlt.

    Will­kür­li­che Moti­ve, die mit der Sache selbst kaum etwas zu tun haben, spie­len dann immer her­ein. Aber der eigent­li­che Grund für die­ses Ein­knicken vor den Risi­ken der See­fahrt im Den­ken liegt woan­ders: Man kann das eige­ne Den­ken nicht in der Schwe­be halten!

    Und dann wird der Main­stream bemüht, man schließt sich irgend­ei­ner herr­schen­den Mei­nung an, die zuvor von den Alpha­tie­ren unter den Mei­nungs­ma­chern bei Twit­ter aus­ge­kas­pert wor­den ist. Dank­bar wird das dann von kar­rie­re­be­flis­se­nen Nach­wuchs­kräf­ten auf­ge­grif­fen und exe­ku­tiert. Alle, die jetzt noch anders den­ken, sol­len ent­we­der schwei­gen oder sie wer­den exkom­mu­ni­ziert. – Wo kämen wir hin mit der herr­schen­den Mei­nung, wenn jeder selbst den­ken wollte?

    Die wenig­sten Zeit­ge­nos­sen sind wil­lens und in der Lage, die eige­nen Gedan­ken in der Schwe­be zu hal­ten, um dann auch noch sank­tio­niert zu wer­den von Bes­ser­wis­sern und vor allem von Bes­ser­men­schen. – Und den­noch hat sich da eine neue Iden­ti­tät her­aus­ge­bil­det, es ist die derer, die dem Druck beacht­li­cher­wei­se stand­ge­hal­ten haben. Es sind die, die sich haben ver­un­glimp­fen las­sen, die sich tag­täg­lich haben “frei­te­sten” las­sen müs­sen, um noch ihrer Arbeit und ihren Ver­pflich­tun­gen nach­ge­hen zu können.

    “Zeit der Abrech­nung”, das klingt wie der Titel für einen schlech­ten Western. Wobei ich aller­dings zuge­ste­hen muß, daß mir ein wenig danach ist, Abrech­nung. – Die Dop­pel­mo­ral, sich einer­seits zu ver­bie­gen, weil man doch schon zeit­le­bens ein Häk­chen hat­te wer­den wol­len, um dann dop­pelt zu kas­sie­ren, ist gera­de­zu skan­da­lös. Einer­seits war man ja so etwas von vor­bild­lich des “klei­nen Pik­sens” wegen und ande­rer­seits wur­de man auch noch belohnt, durf­te wie­der ins Restau­rant und in den Urlaub flie­gen, wäh­rend Son­der­lin­ge wie ich nicht ein­mal mehr in den Bau­markt gehen durf­ten, um sich wenig­stens etwas zum Basteln zu holen.

    Ja, ich möch­te Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, bevor ich über­haupt wie­der bereit bin, mich mit denen zu ver­stän­di­gen, die aus ihrem Her­zen eine Mör­der­gru­be gemacht haben.

    Ich will mir jetzt von den Impf­vor­dräng­lern nicht auch noch erklä­ren las­sen, daß ich nicht nur Impf­skep­ti­ker bin, son­dern auch noch Putin­ver­ste­her, wenn ich auf die Ver­ant­wor­tung des Westens unter der ego­ma­ni­schen Füh­rung der USA hin­zu­wei­sen nicht müde wer­de. – Die rhe­to­ri­schen Figu­ren sind die­sel­ben, man ist dann ein Leug­ner, der angeb­lich aus­ge­grenzt gehört. In den Augen der Über­an­ge­paß­ten ist Ver­ste­hen nun­mehr zur Sün­de geworden.

    Ich habe früh­zei­tig öffent­lich davor gewarnt, daß sich die Erwach­se­nen in ihrer pani­schen Angst nicht auch an Kin­dern, Jugend­li­chen und an alten und ster­ben­den Men­schen ver­grei­fen dür­fen. Aber die Angst hat vie­le ermäch­tigt, gewis­ser­ma­ßen über Lei­chen zu gehen. – Und jetzt will es wie­der mal kei­ner gewe­sen sein. Die Ver­tre­ter der Ethik-Kom­mis­si­on, die Bun­des­ver­fas­sungs­rich­ter und die Rie­ge der Scharf­ma­cher und Haß­pre­di­ger zucken ein­fach nur mit den Schul­tern und möch­ten nicht mehr dar­an erin­nert wer­den. Shit happens?

    Sor­ry, als es mir zu dumm wur­de, habe ich sei­ner­zeit schon zwi­schen Nicht­den­kern und Selbst­den­kern unter­schie­den. Und nicht sel­ten ging es mir in der Coro­na-Zeit, hin­ter den Git­ter­stä­ben des Lock­down-Syn­droms, wie dem Pan­ther von Ril­ke und wie Keith Jar­rett im miß­lun­ge­nen Kon­zert von Hamburg.

    Über dem Ein­gang zur Aka­de­mie von Pla­ton in Athen soll der Spruch gestan­den haben, es möge nie­mand ein­tre­ten, der nichts von Mathe­ma­tik ver­stün­de, was damals eher eine durch­aus anschau­li­che Geo­me­trie war. – Mein Prin­zip habe ich bei Hans Blu­men­berg gefun­den, der davon sprach, daß man den Augen­hin­ter­grund spie­geln soll­te, um zu sehen, wor­auf ande­re wirk­lich Wert legen.

    Es ist ja nun nicht so, daß nicht ein und der­sel­be Gedan­ke immer wie­der, in allen erdenk­li­chen Dar­rei­chungs­for­men gebo­ten wor­den ist. Hier etwa bei Fran­kie Goes to Hollywood:

    “Relax, don′t do it
    When you wan­na go do it
    Relax, don’t do it
    When you wan­na come”

    In mei­nen Semi­na­ren for­de­re ich dazu auf, auch stei­le The­sen zu ver­tre­ten. Die Kunst liegt schließ­lich dar­in, mög­lichst genau in Erfah­rung zu brin­gen, wann eine Theo­rie kol­la­biert. Nicht weni­ge bre­chen bereits an ihrem eige­nen Gewicht in sich zusam­men, man muß sie nicht ein­mal schief anschauen.

    Dann gibt es wel­che, die unter Bela­stung erstaun­lich lan­ge hal­ten, wor­auf ich dann aber den Mei­ster­test mache, ob eine hoch­mö­gen­de Auf­fas­sung auch in der Lage ist, sich selbst zu ertra­gen. – Eine gute Theo­rie soll­te fähig sein, “neben sich” auch noch ganz ande­re, womög­lich kon­kur­rie­ren­de Auf­fas­sung tole­rie­ren und mit ins Gespräch zie­hen zu können.

    Wenn eine Theo­rie die das nicht kann, weil deren Ver­tre­ter zumeist der­art über­zeugt sind von ihrer “Alter­na­tiv­lo­sig­keit”, dann dis­qua­li­fi­zie­ren sie sich selbst, denn das ist unphi­lo­so­phisch und nicht sel­ten auch unmo­ra­lisch. – Sokra­tes war gera­de nicht beschei­den, ganz im Gegen­teil. Die ande­ren, haben ihn zum Tode ver­ur­teilt, weil sie das Phi­lo­so­phie­ren nicht mehr ertru­gen, weil sie nicht wei­ter­hin bei ihren Dumm­hei­ten öffent­lich über­führt wer­den mochten.

    Sokra­tes glaubt den Prie­stern des Ora­kels nicht, weil er es doch bes­ser von sich weiß, weil er weiß, daß er nichts weiß. – Dar­auf beginnt er sei­ne Kam­pa­gne, mit der er sich in den Augen der Hono­ra­tio­ren unmög­lich macht, wenn er sie der Rei­he nach alle vor­führt. – Ich habe schon oft dar­über nach­ge­dacht, ob es nicht auch ein geschick­tes Manö­ver der Prie­ster von Del­phi gewe­sen sein könn­te, dafür zu sor­gen, daß Sokra­tes sich selbst unmög­lich zu machen beginnt.

    Mark Anto­kol­ski: Death of Socra­tes, 1875.

    Ich stel­le mir vor, wie Sokra­tes in sei­ner gan­zen Bar­fü­ßig­keit an einer Sei­te die Ago­ra betritt und auf der ande­ren Sei­te die gefühlt Wis­sen­den flucht­ar­tig das Wei­te suchen. Wer nicht schnell genug ist, wird sich einem Gespräch stel­len müs­sen, das eigent­lich nicht dazu dient, den ande­ren nur vor­zu­füh­ren, denn das machen die Bes­ser­wis­ser schon selbst.

    Ihr Feh­ler ist kar­di­nal, sie mei­nen, daß man die­ses und jenes wirk­lich so ver­bind­lich und ein­deu­tig wis­sen kön­ne, so daß man rich­ten kann über ande­re, die eben nicht “rich­tig” den­ken. – Genau die­se hoch­mö­gen­den Zeit­ge­nos­sen wer­den jetzt aber vor­ge­führt, indem ihnen die Gele­gen­heit gege­ben wird, sich selbst vorzuführen.

    Aber es geht dabei kei­nes­wegs um eine Kampf, wie so vie­le noch immer mei­nen. Als wäre Phi­lo­so­phie so etwas wie eine Lust am Schar­müt­zel, wobei es dar­auf ankä­me, ande­re der­art in Ver­le­gen­heit zu brin­gen, so daß sie “nichts mehr sagen kön­nen”. – Ein wirk­li­cher phi­lo­so­phi­scher Dia­log hat dage­gen immer etwas Kon­sen­su­el­les. Man spricht gemein­sam etwas an und ent­wickelt dann auch gemein­sam wei­ter­ge­hen­des Denken.

    Dabei wird es aber immer kom­ple­xer, weil wir ganz all­mäh­lich gemein­sam immer mehr sehen und “ein­se­hen”, was auch auf irgend­ei­ne Wei­se rele­vant sein dürf­te. – Genau das aber hal­ten die wenig­sten aus. Sie glau­ben ernst­haft, am Ende käme immer nur die ein­zi­ge, unteil­ba­re, wis­sen­schaft­lich-wis­sen­schaft­li­che Wahr­heit über die wirk­lich wirk­li­che Wirk­lich­keit dabei her­aus. Und alle hät­ten sich nun die­ser ein­zi­gen Wahr­heit wie beim Göt­zen­dienst zu unterwerfen.

    Gera­de die­se Zeit­ge­nos­sen haben sich gehen las­sen wäh­rend der blei­er­nen Zeit. Man konn­te mal wie­der so rich­tig einer ein­zig rich­ti­gen Auf­fas­sung sein und end­lich auch mal wie­der den Block­wart geben. Ich habe mich gern von man­chen Men­schen getrennt in die­ser Zeit, weil ich gese­hen habe, daß sie mir auch bis­her eigent­lich immer nur mei­ne Denk­zeit gestoh­len und die Musen ver­grault haben.

    Die ganz gro­ße Feig­heit kam bei denen hin­zu, die sich in die Schwei­ge­spi­ra­le zurück­ge­zo­gen haben, und rein gar nichts mehr kund getan haben. Sie haben ihr Süpp­chen im Stil­len gekocht. – Aber auch sie sind mit ver­ant­wort­lich für de Irr­sinn, in den sich ein Groß­teil der Gesell­schaft vor allem in Deutsch­land hat von einer Pres­se trei­ben las­sen, die sich plötz­lich wie die Hei­li­ge Inqui­si­ti­on auf­ge­führt hat. – Ja, und jetzt kommt die Abrech­nung, wenn die unse­li­gen Unsäg­lich­kei­ten aus den Pro­to­kol­len der Pan­ther­zeit wie­der zum Besten gege­ben wer­den. Im Nach­hin­ein klingt das alles noch schau­der­haf­ter, so daß man sich fra­gen möch­te, wie sehr wol­len eigent­lich die, die sich da so haben gehen las­sen, mit ihrem Scham­emp­fin­den klar kommen?

    Sie haben sich ver­füh­ren, in ihrer ein­ge­bil­de­ten Gewiß­heit zu wis­sen, was sie nicht wis­sen kön­nen, und das alles mit gefähr­li­chem Halb­wis­sen. Mit Ent­set­zen den­ke ich an die vie­len unbe­hol­fe­nen Gesprä­che über natur­wis­sen­schaft­li­che Zusam­men­hän­ge zurück, die ein­fach nur heil­los verliefen.

    Ja, es ist so. Wir wis­sen nichts! – Das hat der gries­grä­mi­ge Her­bert Weh­ner in dem berühm­ten Fern­seh­in­ter­view mit Hans Die­ter Lueg mit aggres­si­ver Hoch­po­tenz unbe­zwei­fel­bar klar gestellt. – Übri­gens ist es köst­lich, wie sich bei­de behar­ken und Weh­ner sein Gegen­über als “Herr Lüg” titu­liert, wor­auf die­ser, gar nicht ver­le­gen mit “Herr Wöh­ner” kontert.

    Unge­fähr so stel­le ich mir eine phi­lo­so­phi­sche Per­for­mance des Phi­lo­so­phen unter den Phi­lo­so­phen vor, wie er, gefolgt von einer Entou­ra­ge hoch­wohl­ge­bo­re­ner Jün­ger den Hono­ra­tio­ren wie­der ein­mal eine Abfuhr nach der ande­ren erteil­te und die Jüng­lin­ge dar­über in wie­hern­des Geläch­ter aus­bra­chen. Nichts ist schlim­mer als die ein­ge­bil­de­te Weis­heit, daher habe ich auch kein Mit­leid, denn die Ver­tre­ter des Nicht­selbst­den­kens haben sich den Spott red­lich verdient.

    Und nein, wir ste­hen kei­nes­wegs nackt da, son­dern ganz im Gegen­teil. Es wird sogar immer bun­ter, sobald das Den­ken ins Schwe­ben kommt, weil sich immer mehr gute Gei­ster ein­stel­len, denn wo einer ist, kom­men bald schon ande­re hin­zu. – Das geschieht aber nur, wenn gar nicht mehr irgend­ein Anspruch erho­ben wird, irgend­et­was jetzt aber nun ernst­haft und unbe­zwei­fel­bar mit Gewiß­heit wis­sen zu kön­nen und zwar so, daß sich ande­re gefäl­ligst dar­an zu hal­ten haben.

    Wor­auf es beim Umgang mit Nicht­wis­sen ankommt? – Wir ver­fü­gen hof­fent­lich über eine Urteils­kraft, die sich auf das Schwe­ben ver­steht. Und die­ses Urteils­ver­mö­gen ist für Situa­tio­nen zustän­dig, in denen wir ein­fach nicht genug wis­sen können.

    Phi­lo­so­phie ist daher auch nicht ein­fach nur eine Tätig­keit, es geht auch nicht nur um Tech­ni­ken des Den­kens, Schluß­fol­gerns und Bewei­sens. Es geht viel­mehr um eine Lebens­hal­tung, die aller­dings auch ein­ge­übt wer­den kann.

    Wenn Dia­lo­ge und Dis­kur­se sich in unse­rer ein­fäl­ti­gen Zeit und unter Abse­hung der vie­len Ein­di­men­sio­na­li­tä­ten end­lich ein­mal lösen von der Gedan­ken­schwe­re ihrer Blind­heit und ris­kie­ren, mit dem Schwe­ben zu begin­nen, dann ist es der Aus­druck von Selbstbewußtsein.

    Man muß es sich eben auch lei­sten kön­nen, vie­len Gedan­ken ihre Chan­cen zukom­men zu las­sen. Dann ist Schluß mit die­sem grim­mi­gen Recht­ha­ben­wol­len, wenn end­lich die Ein­stim­mung in die phi­lo­so­phi­sche Grund­hal­tung auf­kommt, um bereit­wil­lig Platz zu machen für den Auf­tritt aller erdenk­li­cher Gedan­ken, Gefüh­le und Gei­ster, von denen einer bemer­kens­wer­ter als der ande­re ist. 

    Wenn dem so ist, dann kann Geist auf­kom­men. Aber die­ser macht das nur in Aus­nah­me­si­tua­tio­nen, weil er anson­sten weit bes­se­res zu tun hat. – Wenn wir uns aber die­se Frei­hei­ten her­aus­neh­men im Gespräch, dann kommt auf, was in den alten Schrif­ten als “Lachen der Wei­sen” dar­ge­stellt wird.

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Ironie,  Kunst,  Lüge,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Platon,  Psyche,  Psychosophie,  Religion,  Seele,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist

    Warum der Teufel den Schnaps gemacht hat

    Ein Kritiker vor dem Herrn

    Nur in bestimm­ten Reli­gio­nen ist der Teu­fel nicht wohl gelit­ten, son­dern gefürch­tet und sogar ver­haßt. Das sagt mehr über den schlech­ten Cha­rak­ter man­cher Reli­gio­nen, als über den Teu­fel selbst aus. Natür­lich muß auch er ein Geschöpf Got­tes sein, wenn nun mal alles aus einer Hand stam­men soll.

    Wenn es nur einen ein­zi­gen, noch dazu wah­ren, all­ge­gen­wär­ti­gen, all­wis­sen­den und güti­gen Gott geben soll, dann darf es kei­nen zwei­ten und schon gar kei­nen Gegen–Gott geben. War­um? — Eher aus Grün­den der Kon­kur­renz, die Prie­ster nicht mögen. Sie möch­ten viel­mehr das Mono­pol für alles Göttliche.

    Mit dem soge­nann­ten Bösen geht nicht nur in Hollywood–Streifen immer eine Her­aus­for­de­rung ein­her, so daß sich das soge­nann­te Gute bewäh­ren muß.

    An sei­ner Auf­ga­be, die er sich selbst gege­ben hat, läßt sich der Teu­fel am ehe­sten ver­ste­hen: Er ist der Ver­su­cher , das ist sei­ne Sache. — Mephi­sto­phe­les stellt sich in Goe­thes Faust vor als:

    Franz von Stuck: Luzi­fer (1890). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Ein Teil von jener Kraft,
    Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
    (…)
    Ich bin der Geist, der stets verneint!
    Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
    Ist wert, daß es zugrun­de geht;
    Drum bes­ser wär’s, daß nichts entstünde.
    So ist denn alles, was ihr Sünde,
    Zer­stö­rung, kurz das Böse nennt,
    Mein eigent­li­ches Element.
    (…)
    Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war,
    Ein Teil der Fin­ster­nis, die sich das Licht gebar, …

    (Johann Wolf­gang von Goe­the: Faust. Eine Tra­gö­die. In: Wer­ke; Bd. 3. S. 47.)

    Ein Geschöpf Got­tes soll er sein, sogar einer der Mäch­tig­sten, wenn nicht der Mäch­tig­ste über­haupt, dann aber sei er abtrün­nig gewor­den. — Das soll so gekom­men sein: Als der mit sich selbst jeden Schöp­fungs­tag immer zufrie­de­ner wer­den­de Schöp­fer sei­nen Engeln end­lich die fer­ti­ge Schöp­fung und dann auch deren ver­meint­li­che Kro­ne vor­stell­te, soll er von den Geist­we­sen ver­langt haben, vor dem Men­schen niederzuknien.

    Das haben auch fast alle folg­sam getan, nur einer nicht. Luzi­fer, einer vom Schla­ge der Erz­engel mit dem Flam­men­schwert soll die­se Hul­di­gung eben­so selbst­be­wußt wie kon­se­quent ver­wei­gert haben. — Und jetzt kommt, was nur Phi­lo­so­phen sich getrau­en: Der Sache nach­ge­hen, die mög­li­chen Grün­de prü­fen, um dann zu dem ket­ze­ri­schen Ergeb­nis zu kom­men: Recht hat er, der Luzifer!

    Es gehört stets gewis­ser Mut dazu, aus­zu­sche­ren und aus der Rei­he zu tan­zen, und das brin­gen nur weni­ge fer­tig. Wenn man sich in die so fei­er­li­che Situa­ti­on hin­ein­ver­setzt: Da ist der Schöp­fer die­ser Welt über alle Maßen stolz auf sich und sein Werk, dann kommt die­ser Kri­ti­ker daher. Die aller­er­ste Lek­ti­on erteilt Luzi­fer dem Schöp­fer­gott. — Das Sel­ber­den­ken macht ihn phi­lo­so­phisch höchst inter­es­sant, so wird er zum Kri­ti­ker aller Kritiker.

    Uner­müd­lich wie Sisy­phos ver­sucht der Teu­fel seit­her, mög­lichst kon­kret nach­zu­wei­sen, daß der Mensch es nicht ver­dient, daß Engel sich tat­säch­lich vor ihm ver­nei­gen. — Da wir uns den Sisy­phos auf­grund einer Bemer­kung von Albert Camus als einen glück­li­chen Men­schen vor­stel­len soll­ten, dürf­te es sich auch bei Luzi­fer um einen glück­li­chen Engel han­deln, weil er sich sei­ne Auf­ga­be selbst gege­ben hat.

    Im jüdi­schen Glau­ben wer­den Engel sehr viel dif­fe­ren­zier­ter vor­ge­stellt. Das fin­det sich auch bei Rai­ner Maria Ril­ke in sei­nen Dui­ne­ser Ele­gi­en. — Dort sind sie nicht ein­fach nur lamm­fromm, viel­mehr mysti­sche Wesen. Sie sind schön und schreck­lich zugleich, und sie ste­hen dort, wo gro­ße Geheim­nis­se zu erwar­ten sind. Der Anfang der ersten Ele­gie hat etwas von dem, was hier dar­ge­stellt wer­den soll:

    Wer, wenn ich
    schriee, hör­te mich denn aus der Engel
    Ord­nun­gen? und gesetzt selbst, es nähme
    einer mich plötzlich
    ans Herz: ich ver­gin­ge von seinem
    stär­ke­ren
    Dasein. Denn das Schö­ne ist nichts
    als des Schrecklichen
    Anfang, den wir noch gra­de ertragen,
    und wir bewundern
    es so, weil es gelas­sen verschmäht,
    uns zu zer­stö­ren. Ein jeder Engel ist schrecklich.

    (Rai­ner Maria Ril­ke: Dui­ne­ser Ele­gi­en. In: Sämtl. Wer­ke; Bd. 1. S. 685.)

    Der Mensch ist zwi­schen Tier und Engel gestellt und ist nicht sicher zu Hau­se bei sich, wie Ril­ke sagt. — Das ist dann wohl auch der eigent­li­che Grund, war­um Luzi­fer in sei­ner Eigen­schaft als Licht­brin­ger und als der Ober­ste aller Teu­fel gewis­se Ent­wick­lungs­dien­ste lei­stet. Der Teu­fel ist also ein Selbst­den­ker, mehr noch, er ist ein Schöp­fungs­kri­ti­ker und dabei nicht unbe­dingt ein Feind des Men­schen, son­dern eher einer, der sich vom soge­nann­ten all­zu Mensch­li­chen eben­so­we­nig abhal­ten läßt in sei­nem Urteil, wie der ägyp­ti­sche Schrei­ber­gott Thot beim Jüng­sten Gericht. Auf der See­len­waa­ge wird das Gewicht einer Feder, in der einen Scha­le, gegen die mit Erden­schwe­re bela­ste­te See­le, in der ande­ren Scha­le, abge­wo­gen. Der­weil wirkt die Waa­ge wie ein Lügen­de­tek­tor, der auf jede Unwahr­heit reagiert. Für den Fall ist die See­le ver­lo­ren, sie wird ver­sto­ßen und dem hunds­köp­fi­gen Anu­bis zum Fraß zugeworfen.

    Rechts: Der ibis­köp­fi­ge Thot als Schrei­ber beim ›Wie­gen des Her­zens‹, hin­ter Anu­bis (1300 BC). — Quel­le: Public Domain via Wikimedia.

    Es ist in der Tat befremd­lich, des­öf­te­ren dabei zu sein, wenn Zeit­ge­nos­sen sich selbst und ande­ren eini­ges vor­ma­chen wol­len, was ein­fach nicht stimmt. Das ist schon eine wun­der­sa­me Art der Urteils­bil­dung, sich auf den eige­nen Leim zu krie­chen. — Es braucht nicht viel an gei­sti­ger Durch­drin­gungs­kraft und empa­thi­scher Beob­ach­tungs­ga­be, um zu sehen, daß man­che sich selbst und ande­ren gewis­sen­los etwas vor­ma­chen wollen.

    Wir haben aller­dings auch ein Gespür für Unstim­mig­kei­ten: Zumeist war­ten Spra­che und Gram­ma­tik mit Selt­sam­kei­ten auf, wobei man sehen kann, was alles zuein­an­der pas­sen muß, wenn etwas wirk­lich stimmt. — Wahr­heit ist weit mehr als eine Fra­ge der Logik, son­dern ein gan­zes Ensem­ble unter­schied­lich­ster Aspek­te, die nicht nur in der Aus­sa­ge, son­dern in ihrer gan­zen Dar­bie­tung har­mo­nisch abge­stimmt sein müs­sen. Es zeigt sich, was alles im Klei­nen und auch im Gro­ßen zusam­men­stim­men und im Ein­klang mit­ein­an­der sein muß.

    Wenn eine See­le bela­stet ist durch die Erden­schwe­re sol­cher Selbst­be­trü­ge­rei­en, dann wird sie gewiß kei­nen Frei­spruch erhal­ten. Es wür­de ohne­hin nicht funk­tio­nie­ren, sich im Leben zu bela­sten, um dann nach dem Tode ent­la­stet zu sein. — Da wirkt das Manö­ver der Christ­li­chen Kir­chen, daß die Schuld wie eine Lokal­run­de schon für alle Zei­ten im Vor­aus abge­tra­gen sei, kaum bes­ser als eine durch­sich­ti­ge Abofalle.

    Erlö­sen müs­sen wir uns schon selbst. Luzi­fer ist dabei einer der besten Rat­ge­ber, denn wenn etwas zu schwer ist, dann kann es auch nicht schwe­ben. Dabei wür­den wir so gern engels­gleich abheben.

    Bei Pla­ton gibt es dazu einen phan­ta­sti­schen Mythos vom gemein­sa­men Zug mit den Göt­tern über das nächt­li­che Fir­ma­ment bis zum Reich der Ideen am Ran­de der Welt.

    Die Göt­ter haben aller­dings ein Gespann mit zwei sehr guten Pfer­den. — Beim See­len­wa­gen der Men­schen ist jedoch nur eines der Pfer­de wirk­lich taug­lich für den Auf­stieg ins Reich der Ideen.

    Der Ver­su­cher ist ein begna­de­ter Prü­fer und wir tun gut dar­an, ihm zu ver­trau­en, denn wo er sich nicht bereit fin­den kann für sei­ne Zustim­mung, da haben wir sie auch noch nicht ver­dient. — Man soll­te daher eher auf die Hil­fe­stel­lung ach­ten, die Luzi­fer als Ver­su­cher zu lei­sten imstan­de ist.

    Bei Goe­the ist Mephi­sto ein Iro­ni­ker und manch­mal zynisch, aus guten Grün­den. Aber sei­ne Iro­nie hat Empa­thie und sein Intel­lekt ist mes­ser­scharf, man kann ihm nicht mit dum­men Aus­re­den kom­men, denn er kennt sie alle.

    Das Teuflische am Alkohol

    Da sich der Teu­fel aber nicht stän­dig um alle höchst­per­sön­lich küm­mern will, hat er den Schnaps gemacht. Daher ist es so wesent­lich, das Teuf­li­sche am Alko­hol zu ver­ste­hen, um dar­über sich selbst zu verstehen.

    Udo Jür­gens irrt, wenn er meint, der Teu­fel habe den Schnaps gemacht, um uns zu ver­der­ben. Das ist zu kurz gegrif­fen.— Wie bereits dar­ge­stellt, geht es ihm dar­um, uns zu prü­fen, ob wir es ver­dient haben, sei­ne Ach­tung zu erhal­ten und eine Flug­li­zenz ins Transzendentale.

    Der Song­text von Udo Jür­gens, hat aller­dings eine bemer­kens­wer­te Poin­te. Da sitzt ein Anti­held in sei­ner Stamm­knei­pe. Ein Mäd­chen von der Heils­ar­mee ver­sucht ihn engels­gleich zu ret­ten, indem sie dem Trin­ker ins Gewis­sen redet, was natür­lich mit­nich­ten ver­fängt. — Bekannt­lich kön­nen alle, immer und zu jeder Zeit auf­hö­ren, nur momen­tan gera­de nicht, und dar­auf trin­ken wir erst mal noch einen.

    Dann aber kommt die wirk­lich luzi­fe­ri­sche Poin­te: Er bringt das Mäd­chen nach Hau­se und sie nimmt ihn mit zu sich auf ihr Zim­mer. — Aber dort macht der ver­hin­der­te Held eine teuf­li­sche Selbsterfahrung:

    Sie lud mich in ihr Zim­mer ein
    Und dort erfuhr ich dann
    Wer zuviel trinkt
    Ist lei­der oft
    Nur noch ein hal­ber Mann.

    (Udo Jür­gens: Der Teu­fel hat den Schnaps gemacht (1973).

    Unver­geß­lich ist auch Wil­helm Busch:

    Es ist ein Brauch von alters her,
    wer Sor­gen hat, hat auch Likör!

    (Wil­helm Busch: Die From­me Hele­ne. In: Gesam­mel­te Wer­ke. Bd. 2, S. 282.)

    Der Spruch bringt es zuver­läs­sig auf den Punkt. Man ach­te wie­der auf den Kon­text: Wäre sie nicht ganz so fromm, die Hele­ne, dann hät­te sie nicht ganz so vie­le Sor­gen und bräuch­te auch nicht so viel Likör. — Wer der alko­ho­li­schen Ver­su­chung nicht wider­ste­hen kann, trö­stet sich also über etwas ganz Ande­res hinweg.

    Der Alko­hol ist wie ein Eis­berg, bei dem auch vier von fünf Tei­len unter der Ober­flä­che lie­gen. Aber weder Luzi­fer, noch der Alko­hol ist das Pro­blem, son­dern der ver­meint­li­che Trost, den er spen­det, durch Betäu­bung see­li­scher Schmer­zen. — Aber die Lin­de­run­gen hal­ten nicht vor, denn es wer­den nur die Sym­pto­me bekämpft. Dann kom­men die Schmer­zen wie­der, um erneut im Alko­hol ertränkt zu wer­den. Alles schreit förm­lich danach.