• Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Moral,  Professionalität,  Religion,  Theorien der Kultur,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Wir haben nicht nur Corona, – wir haben auch Demokratie

    Was Menschen einander antun können

    Es ist erstaun­lich, wie wenig ver­trau­ens­er­weckend die men­ta­len Wider­stands­kräf­te sind, wenn es um „Gesund­heit“ geht. In der Tat ist es wün­schens­wert, an Leib und See­le gesund zu sein, und ein wenig Glück dürf­te auch noch mit dabei sein. Nicht zu ver­ges­sen die Lieb­sten und Freun­de mit Nähe und Mit­ge­fühl, denn es lebt und fei­ert sich in Gemein­schaft ein­fach besser.

    Aber was ist inzwi­schen aus der Nähe gewor­den? Die gan­ze Gesell­schaft fügt sich einem Medizin–Diskurs, wie ihn Michel Fou­cault nicht schlim­mer hät­te aus­ma­len können. 

    Dabei hat der Glau­be an ‚die‘ Medi­zin selbst etwas Aber­gläu­bi­ges in der Erwar­tung, sie wäre „Wis­sen­schaft“ und sonst gar nichts. Alles ande­re sei dage­gen nichts wei­ter als Ket­ze­rei, eine Abwei­chung vom ein­zig wah­ren Glau­ben und zuletzt ein­fach nur Quer­den­ker­tum und Hokuspokus.

    Teaser. Das Erste: Hart aber fair. Nur ja kei­nen Zwang: Ist unse­re Poli­tik beim Imp­fen zu fei­ge? 15.11.2021.

    Die Welt ist aber viel kom­ple­xer, als es sich Poli­tik und Medi­zin träu­men las­sen, die sich in die­ser Kri­se zusam­men­ge­tan haben, um sich gegen­sei­tig zu stützen. 

    Her­aus­ge­kom­men sind Ver­hält­nis­se, als leb­ten wir noch im 19. Jahr­hun­dert. Da gibt es eine bemer­kens­wer­te Unter­schei­dung zwi­schen Arzt und Medi­zi­ner. Letz­te­re waren damals noch Staats­be­am­te und sie stan­den zumeist im Mili­tär­dienst und so ist dann auch heu­te noch immer ihre Denkungsart. 

    Mein Dok­tor­va­ter, Prof. Wil­helm Goerdt war Mit­glied der ersten Ethik–Kommission in Deutsch­land. Er hat mir berich­tet, daß es in den ersten Sit­zun­gen über den soge­nann­ten „Mün­di­gen Pati­en­ten“ ging. 

    Er war ein her­vor­ra­gen­der Mode­ra­tor in Semi­nar­dis­kus­sio­nen. Man kam stets ins Schwit­zen auf der Suche nach bes­se­ren Argu­men­ten. — Er war völ­lig ent­setzt und befrem­det dar­über, daß die Medi­zi­ner gar nicht ver­stan­den oder nicht ver­ste­hen woll­ten, was wohl damit gemeint sein könn­te, wenn von „Mün­di­gen Pati­en­ten“ die Rede war. 

    Nun hat sich die Poli­tik im Zuge der Corona–Krise in einen Akti­vis­mus ver­rannt. Sie hat Äng­ste geschürt und Panik ver­brei­tet. Man glaub­te, die Kri­se auf die­se Wei­se „in den Griff zu bekom­men“. Dabei ist in Wirt­schaft, in der Bil­dung und in der Zivil­ge­sell­schaft ganz erheb­li­cher Scha­den ange­rich­tet worden.

    Nicht nur der Ver­lust jahr­zehn­te­lang „erspar­ter“ Steu­er­mil­li­ar­den, son­dern auch see­li­sche Schä­den bei Kin­dern, psy­chi­sche Bela­stun­gen bei jun­gen Leu­ten und vie­le, sehr vie­le ver­lo­re­ne Träu­me, um von den Trau­ma­ti­sie­run­gen gar nicht erst zu spre­chen. Der fran­zö­si­sche Prä­si­dent hat den Kriegs­zu­stand aus­ge­ru­fen und dann ist es welt­weit zu unüber­schau­ba­ren Kol­la­te­ral­schä­den gekommen.

    Hin­ter alle­dem steckt ein obso­le­tes Men­schen­bild, das aus dem 19 Jahr­hun­dert stammt. In die­ser Kri­se fei­ert der Mis­an­thro­pis­mus fröh­li­che Urständ, weil sich Poli­tik und Medi­zin zusam­men­ge­tan haben. In Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie wird dage­gen seit etwa 1900 von einem völ­lig ande­ren Men­schen­bild aus­ge­gan­gen, daß der Mün­dig­keit, der Selbst­fin­dung, der Selbst­ver­ant­wor­tung, der Ent­wick­lung und der Emanzipation.

    Und jetzt, wo all­mäh­lich kaum noch abzu­strei­ten ist, daß alle Maß­nah­men die ver­spro­che­ne Wie­der­kehr zur Nor­ma­li­tät ein­fach nicht bewir­ken, daß Geimpf­te nicht etwa immun, son­dern wei­ter­hin ansteckend und auch gefähr­det sind, daß vie­le der erbrach­ten Opfer eben nicht erbracht haben, was in Aus­sicht gestellt wor­den ist, jetzt wird nach den Schul­di­gen gesucht wie in einer Ket­zer­ver­fol­gung. — Aber die Ver­ant­wor­tung liegt in die­ser fata­len Koope­ra­ti­on zwi­schen Poli­tik und Medi­zin auf der Grund­la­ge eine inhu­ma­nen Menschenbildes.

    Eric Clap­tons Hand­ab­drücke und sei­ne Unter­schrift auf dem Rock Walk; 9. Juli 2005, Hol­ly­wood. Foto: Nick Wil­le, via Wikimedia.

    Wir haben nicht nur Coro­na, wir auch Demo­kra­tie. Die über­bor­den­den Mach­phan­ta­sien, in denen Medi­zin und Poli­tik sich erge­hen, sobald sie sich zusam­men­tun, sind päd­ago­gisch kontraindiziert.

    Sie ver­un­si­chern, erzeu­gen Panik und machen krank. Die Gesell­schaft wird pola­ri­siert, nur weil der Mut fehlt, zuge­ben zu kön­nen, daß der gute Wil­le mit­un­ter die schlech­te­sten Ergeb­nis­se erzielt. 

    Der Akti­vis­mus, der Steue­rungs­wahn, die Über­heb­lich­keit, mit ganz weni­gen, völ­lig fixier­ten Model­len aus­zu­kom­men, um dann zu glau­ben, eine sol­che Kri­se lie­ße sich bewäl­ti­gen mit nur ganz weni­gen Hin­sich­ten und Rück­sich­ten, ist fahrlässig.

    Alle Syste­me haben inzwi­schen Scha­den genom­men. Allem vor­an das Ver­trau­en in Poli­tik, Staat, Medi­zin, Recht, Wirt­schaft, Wis­sen­schaft und auch in die offe­ne Gesell­schaft, die sich selbst zum Feind wird.

    Ganz ent­setz­lich ist es, daß immer wie­der neue Sün­den­böcke aus­ge­ru­fen wer­den. Erst waren es die Kin­der, dann die Jugend­li­chen und jetzt sind es die Unge­impf­ten. Quer­den­ker war mal eine ehren­vol­le Bezeich­nung für sol­che, die den Mut auf­brach­ten, sich des eige­nen Ver­stan­des ohne frem­de Anlei­tung zu bedie­nen. Jetzt wird auch noch das krea­ti­ve, unkon­ven­tio­nel­le, ergeb­nis­of­fe­ne Den­ken verunglimpft.

    Die Poli­tik hat sich ein­neh­men las­sen von nur ganz weni­gen Dis­zi­pli­nen, die nicht ein­mal Wis­sen­schaft sind, son­dern nur Tech­nik. — Einer Tech­nik wer­den die Zie­le vor­ge­ge­ben. Daher hät­ten ganz ande­re Zie­le gesetzt wer­den müs­sen, um mög­lichst unbe­scha­det durch die Strom­schnel­len die­ser Kri­se zu steu­ern. Aber man hat eine Ideo­lo­gie dar­aus gemacht und erwar­tet Gehor­sam, wo Ver­trau­en gar nicht vor­han­den sein kann.

    Staat und Medi­zin haben allein auf­grund ihrer Geschich­te ein wirk­lich gro­ßes Ver­trau­en ein­fach nicht ver­dient. — Die­ser Staat hat die­se Gesell­schaft mehr­fach in schlimm­ste Kata­stro­phen geführt und die Medi­zin stand ihm dabei immer zur Sei­te. Es ist an der Zeit, die viel­zi­tier­te Mün­dig­keit end­lich in Anspruch zu nehme. 

    Tat­säch­lich haben immer nur die Pati­en­ten das letz­te Wort, denn sie tra­gen auch alle Kon­se­quen­zen. Weil dem so ist, tra­gen sie auch die Ver­ant­wor­tung dafür, wem sie sich anver­trau­en. — Mag ein Arzt noch so über­zeugt sein von “sei­ner” The­ra­pie, wir tra­gen die Ver­ant­wor­tung uns selbst gegen­über allein und Ärz­te haben nicht das Recht, uns dann zu maßregeln.

    Weil aber die­se Dis­zi­pli­nen gar nicht in der Lage sind, die Vul­nerabi­li­tät der gan­zen Gesell­schaft in den Blick zu bekom­men, stür­zen sie sich auf das, was sie mes­sen kön­nen. Aber das ist nicht das gro­ße Gan­ze. Daher ist es inzwi­schen zu exor­bi­tant hohen, auch mensch­lich kost­spie­li­gen Opfern gekom­men, die aller­dings nicht wirk­lich gehol­fen haben.

    Die offe­ne Gesell­schaft neigt inzwi­schen dazu, sich selbst zu ver­let­zen. Es wür­de hel­fen, end­lich vom hohen Roß der Erre­gungs­kul­tur her­un­ter­zu­stei­gen, in der sich nicht sel­ten jene wich­tig tun, die am wenig­sten zu sagen haben. Statt­des­sen fin­det ein Rück­fall in unrühm­li­che Zei­ten statt, die zwei­mal schon zum Wel­ten­brand geführt haben.

    Wer nun behaup­tet, es wäre nun wirk­lich ange­sagt, mal wie­der auf den auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter zu set­zen und auf eine Hinterwelt–Pädagogik, in der Men­schen wie­der ein­ge­schüch­tert, gebro­chen und umer­zo­gen wer­den, ist ein Feind der offe­nen Gesell­schaft. Allein schon der Flirt mit tota­li­tä­ren Syste­men wie Chi­na ist ein gei­sti­ges Armutszeugnis.

    55:55 Frank Plas­beck: „Darf ich mal ganz kurz einen Gedan­ken rein­brin­gen. Wir reden ja viel­leicht sogar über kind­li­che Fra­gen, wie­viel Druck braucht ein Kind, um eine Ver­hal­tens­än­de­rung zu haben. Und wenn Sie sich anschau­en, wie sich Druck aus­übt, auch jetzt stei­gen die Impf­zah­len ja wie­der…, plötz­lich, wenn man das sieht, was zuvor immer wie­der bespro­chen wor­den ist mit den Ärz­ten, in den Medi­en, dann hilft plötz­lich Druck,…

    59:50 Sven­ja Flaß­pöh­ler: Mir fällt nur auf, Sie haben ein völ­lig anders Demo­kra­tie­ver­ständ­nis als ich. Sie reden von Kin­dern, auf die man Druck aus­üben muß. Sie sagen, man kann von Kin­dern ler­nen, daß, wenn man Druck auf sie aus­übt, dann ver­än­dern sie ihr Ver­hal­ten… Wenn man wirk­lich über Bür­ge­rin­nen und Bür­ger redet und sie als Kin­der bezeich­net, auf die man Druck aus­üben muß, (lacht). Also mein Demo­kra­tie­ver­ständ­nis ist sozu­sa­gen hun­dert­pro­zen­tig ein ande­res.“ Das Erste: Hart aber fair. Nur ja kei­nen Zwang: Ist unse­re Poli­tik beim Imp­fen zu fei­ge? 15.11.2021.

    Die Moti­ve derer, die an die rei­ne Leh­re des Auto­ri­tä­ren glau­ben, las­sen an mit­tel­al­ter­li­che Ver­hält­nis­se den­ken — mit Pran­ger, öffent­li­cher Demü­ti­gung und Exkom­mu­ni­ka­ti­on. Aber unter denen, die sich dage­gen zu Wort mel­den, zäh­len auch bedeu­ten­de Künst­ler aus der Rock–Generation. 

    Eric Clap­ton ist noch unter der Lüge auf­ge­wach­sen, sei­ne Mut­ter sei sei­ne Schwe­ster. Er ist der Erfin­der des Blues­rock, was dar­auf ver­weist, daß er sich mit der Musik der Schwar­zen zu einer Zeit befaßt hat, als noch die Apart­heit galt. Wenn er die­ser Tage deut­lich macht, er wol­le nicht, daß sein Publi­kum oder Tei­le sei­nes Publi­kums dis­kri­mi­niert wür­den, dann geschieht sei­ne poli­ti­sche Demon­stra­ti­on vor die­sem Hintergrund. 

    Die Nach­kriegs­zeit brach­te einen epo­cha­len Umbruch mit sich, gegen auto­ri­tä­re, krie­ge­ri­sche, tota­li­tä­re und dis­kri­mi­nie­ren­de Ver­hält­nis­se, alles, was sei­ner­zeit noch “nor­mal” zu sein schien. Aber gera­de der Blues­rock hat die Gesell­schaft geöff­net, die Abnei­gung und den Haß über­wun­den und die Schmer­zen gelin­dert, die Skla­ve­rei, Aus­beu­tung und Dis­kri­mi­nie­rung mit sich gebracht haben. — Sol­che Wun­den zu hei­len, dazu bedarf es aller­dings noch sehr viel mehr. 

    Der­zeit ten­diert der Zeit­geist dazu, repres­si­ve Ver­hält­nis­se zu prä­fe­rie­ren. Man glaubt, ein wenig mehr Dik­ta­tur könn­te sinn­voll sein. Dage­gen wer­den aber die alten Gei­ster wie­der auf­ste­hen, um zu sagen, was zu sagen ist:

    Do you wan­na be a free man / Or do you wan­na be a slave? / Do you wan­na wear the­se chains / Until you’re lying in the grave?

    Natür­lich wirkt der Ver­gleich der Corona–Maßnahmen mit der Skla­ve­rei ver­stö­rend. Aber es geht nicht um eine Gleichsetzung. 

    So etwas läßt sich nie­mals ins Ver­hält­nis set­zen, denn dann müß­te gesagt wer­den, was denn nun mehr oder weni­ger “schlimm” war. Es kann daher nur dar­um gehen, aus der Geschich­te ernst­haft die Kon­se­quenz zu zie­hen, daß der­ar­ti­ge Ver­hält­nis­se nie wie­der zuge­las­sen werden. 

    Es ist ent­setz­lich, was Men­schen ein­an­der antun kön­nen, wenn böse Gefüh­le auf­kom­men und ver­stärkt wer­den. Wer Dis­kri­mi­nie­rung erfah­ren hat, wird sie nie wie­der zulas­sen, nicht ein­mal ansatzweise. 

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Religion,  Theorien der Kultur,  Zeitgeist

    Geimpfte und Ungeimpfte, das gute und das böse Kind

    Euge­nio Lucas Veláz­quez: Eng­lish: Auto­da­fé (1853).

    Ketzereien über Ketzerverfolgungswahn

    Bei Ali­ce Mil­ler, einer begna­de­ten Kin­der­psy­cho­lo­gin, gibt es den inne­ren Kampf zwi­schen dem guten und dem bösen Kind. Das eine ist eben­so des­ori­en­tiert wie das ande­re. Wäh­rend sich das eine fügt, rebel­liert das ande­re und bei­de füh­len sich selbst dabei irgend­wie „gehal­ten“.

    Aber was ist denn gut an den guten Kin­dern? Man könn­te kon­sta­tie­ren, daß alle, die sich haben imp­fen las­sen, es in Erwar­tung einer damit auf­kom­men­den Nor­ma­li­tät getan haben aber doch weit weni­ger aus Grün­den der Solidarität. 

    Wer sich hat imp­fen las­sen, wird sehr viel weni­ger Acht­sam­keit an den Tag legen. Aber inzwi­schen ist es ein offe­nes Geheim­nis, das der Unter­schied zwi­schen geimpft und unge­impft all­mäh­lich schwindet…

    Reak­tio­nen dar­auf, daß Coro­na eine glo­ba­le Natur­ka­ta­stro­phe ist und eben­so­we­nig zu beherr­schen ist wie eine Flut, besteht dar­in, daß gan­ze Gesell­schaf­ten retar­die­ren. Gesucht wer­den Sün­den­böcke und man glaubt, sie unter Anders­den­ken­den und Unge­impf­ten gefun­den zu haben. – Allen wird letzt­lich so etwas wie ein Glau­bens­be­kennt­nis abver­langt, das Spek­trum des Sag­ba­ren ist denk­bar eng. So ent­steht eine Schwei­ge­spi­ra­le, die Hälf­te aller Deut­schen geben zu Pro­to­koll, sich nicht mehr frei­mü­tig öffent­lich zu äußern. 

    Dabei war von Anfang an klar, daß alle unter Drei­ßig kaum gefähr­det sind. Aber, man woll­te ja ener­gisch etwas tun. — Aber warum hat man nicht die vul­ner­ablen Grup­pen geschützt und der Jugend die Frei­heit gelas­sen. War­um läßt man es zu, daß die Zahl der Pfle­ge­kräf­te stän­dig abge­nom­men hat?

    Es ist unge­heu­er viel Geld ver­brannt wor­den, war­um hat es nicht dazu gereicht, die Ver­hält­nis­se in den Kli­ni­ken durch einem Quan­ten­sprung zu heben? – War­um ist man nach allen Maß­nah­men, Hoff­nun­gen, Aus­sich­ten, Ver­spre­chun­gen und Opfern immer wie­der genau da, wo man ange­fan­gen hat? 

    Die Ver­hält­nis­se in die­ser Kri­se sind hyper­kom­plex. Es ist Hybris zu mei­nen, eine sol­che Kata­stro­phe lie­ße sich beherr­schen. Man kann geziel­te Schutz­maß­nah­men ergrei­fen, vor allem Klug­heit wäre ange­ra­ten aber kein Aktionismus. 

    Das Muster ist nur zu bekannt: “So tu doch etwas! — Ja was denn tun? — Tu’ irgend­was!”. Das ist jedoch ein Armuts­zeug­nis für alle, die sich in den Glau­ben flüch­ten wie bei der Ket­zer­ver­fol­gung im Mit­tel­al­ter. Die gan­ze Stim­mung ist seit Mona­ten mittelalterlich.

    Ich schrei­be seit Febru­ar 2020 an einer phi­lo­so­phi­schen Stu­die über die­se Sinn­kri­se, über das Ver­sa­gen sämt­li­cher Syste­me von Recht, Poli­tik, Medi­en und Wis­sen­schaft. Es hat sich wie­der ein­mal zeigt, was ich immer wie­der zu mei­nem Ent­set­zen beob­ach­ten muß­te: Aus­ge­rech­net dann, wenn es wirk­lich dar­auf ankä­me, gelas­sen, cool, fast kalt­blü­tig und vor allem mit sehr viel Sinn und Ver­stand dar­an zu gehen, die Per­spek­ti­ve der Ver­nunft in der Viel­falt ihrer Stim­men zur Kennt­nis zu neh­men, durch Dis­kur­se, die frei sein müs­sen und offen, immer dann ver­lie­ren die mei­sten den Kopf und die guten, ach so lie­ben Kin­der sind immer ganz vor­ne. Das hilft nicht.

    Alles was da so tag­täg­lich ver­han­delt wird, hat gar nicht die Kapa­zi­tät, auf den Boden der Tat­sa­chen zu kom­men, die man zur Kennt­nis neh­men müß­te, woll­te man wirk­lich ver­ste­hen, was da gera­de von­stat­ten geht. Es ist eine unge­heu­re Kom­ple­xi­tät, die aber stets auf eines hin­aus­läuft, sie erwischt unse­re ach so rechts­staat­li­chen, wis­sen­schaft­li­chen, frei­heit­li­chen, dis­kur­si­ven und für­sorg­li­chen Ambi­tio­nen bra­chi­al. Die Moral von der Geschicht‘?

    Mehr Beschei­den­heit bit­te, nicht behaup­ten zu wis­sen, was man nicht wis­sen kann. Mit dem Nicht­wis­sen arbei­ten, also nicht den gro­ßen Zam­pa­no machen. – Geschaf­fen wird statt­des­sen eine fast bür­ger­kriegs­ähn­li­che Atmo­sphä­re, ein Auto­da­fé. Ich habe einen geschätz­ten Kol­le­gen am Insti­tut, einen Ket­ten­rau­cher. Und wenn mir das mit der Suche nach den Sün­den­böcken in den Semi­na­ren zu viel wur­de, bei alle­dem schmie­ri­gen Mora­lin, dann habe ich im Brust­ton der Über­zeu­gung ver­kün­det: Alle Pro­ble­me der Mensch­heit könn­ten gelöst sein, wenn nur die Rau­cher nicht wären. – Nun ja, sie spür­ten die Iro­nie dann doch und ahn­ten, wen ich mein­te und sie sahen dann auch in die Hin­ter­grün­de die­ser Bemerkung.

    Die Welt ist zu schwie­rig für gute Kin­der, die doch nur spie­len wol­len. Wann soll­te man den aus­sche­ren, wenn nicht jetzt, wo fast alle den Ver­stand ver­lie­ren? Man merkt es an den Wet­ter­vor­her­sa­gen, die Lust am Unter­gang bringt täg­lich neue Epi­so­den. Neu­lich hat sich angeb­lich ein Polar­wir­bel geteilt, war­um hier sibi­ri­sche Käl­te zu erwar­ten sei. Als ich sah, daß die Mel­dung vom Pots­dam-Insti­tut lan­ciert wor­den war, kurz vor der Kli­ma­kon­fe­renz, dach­te ich über die Bere­chen­bar­keit von Akteu­ren, die Kam­pa­gnen und Wis­sen­schaft seit Jahr­zehn­ten nicht mehr auseinanderhalten.

    Es ist per­fi­de, den Leu­ten mit gro­ßer Käl­te zu kom­men, das Anschwel­len der Küsten­li­ni­en ver­bin­den vie­le ja doch mit Süd­see­fee­lings. – Dann wur­de ich auch noch auf die­se Mel­dung auf­merk­sam gemacht, weil bad News nun­mal good News sind. Bis mir die Hut­schnur riß, ich habe dann ein­fach nach­ge­schaut, was denn Jörg Kachelm­ann, der sich immer so schön auf­re­gen kann über die­sen Bock­mist sagen wür­de. – Und rich­tig! Er schlug auf den “Spie­gel” ein und kon­sta­tiert, man wüß­te über­haupt nichts von die­sem Polar­wir­bel und daß es wohl nur um die Mel­dung ginge.

    Nicht, daß es nicht noch eine Stei­ge­rung gäbe: 

    „Der Ablauf eines Inqui­si­ti­ons­pro­zes­ses war weder für den Ange­klag­ten noch für sei­ne Ange­hö­ri­gen durch­schau­bar. Wäh­rend der Ver­neh­mun­gen wur­den den Ver­däch­ti­gen ein­zel­ne Ver­hal­tens­wei­sen vor­ge­wor­fen, die u.U. für sich allein gese­hen kei­ne Abwei­chun­gen von der kirch­li­chen Leh­re dar­stel­len mußten.

    Die­se Taten konn­ten dann von den Ange­klag­ten ent­we­der zurück­ge­wie­sen oder zuge­ge­ben und bereut wer­den. Wel­che Schlüs­se von Sei­ten des Gerich­tes dar­aus gezo­gen wur­den, war nicht ersicht­lich. Der Pro­zeß fand nicht als zusam­men­hän­gen­de Ver­hand­lung mit der Anwe­sen­heit der Betei­lig­ten oder wenig­stens der mit der Urteils­fin­dung Betrau­ten statt. Die Dau­er des Ver­fah­rens gab kei­nen Hin­weis auf die Bedeu­tung der Ange­le­gen­heit. Das alles führ­te dazu, daß die Ange­klag­ten bis zum Tag des Auto­da­fés kei­ner­lei Schlüs­se auf den Aus­gang des Ver­fah­rens zie­hen konnten. …

    Die mil­de­ste Art der Sank­ti­on des Ver­hal­tens der Ange­klag­ten durch das Inqui­si­ti­ons­ge­richt war das Abschwö­ren. Bei ein­fa­che­ren Ver­ge­hen muß­te dies nicht in der Öffent­lich­keit gesche­hen, son­dern konn­te im Gerichts­saal vor dem Tri­bu­nal durch­ge­führt wer­den. Bei schwer­wie­gen­den Fäl­len fand auch das Abschwö­ren wäh­rend einer öffent­li­chen Urteils­ver­kün­dung statt.

    Das Abschwö­ren war gewöhn­lich mit Neben­stra­fen ver­bun­den. Dies waren Geld­bu­ßen, die Ver­pflich­tung, den San­be­ni­to in der Öffent­lich­keit zu tra­gen, oder die Ver­ban­nung.“ („Auto­da­fé“, Wikipedia)

  • Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Moral,  Motive der Mythen,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist

    Welche Werte zählen nach Corona

    Unter Coro­na wur­de „Nähe“ para­dox: Zuvor hieß es immer­zu, man sol­le sich berüh­ren las­sen, Nähe zulas­sen und dann kamen die Mas­ken und das Abstandhalten.

    Das hat viel aus­ge­löst: Alte Wer­te gehen unter, ande­re tre­ten auf. Inne­re Wer­te wer­den wich­ti­ger, Äußer­lich­kei­ten gera­ten ins Hin­ter­tref­fen. Es fehl­ten ech­te und tie­fe Begeg­nun­gen, in denen Gefüh­le tat­säch­lich mit­ge­teilt wer­den. Die Coro­na-Kri­se hat vie­le Äng­ste, Zwei­fel, Sor­gen und Nöte bewußt gemacht, die bis­lang ver­drängt wurden.

    Die Coro­na-Kri­se hat eine inne­re Ein­kehr erzwun­gen, die selbst zum Pro­blem wur­de. Vie­le möch­ten, wol­len und kön­nen sich mit dem eige­nen Selbst aber nicht aus­ein­an­der­set­zen. Dann kämen Fra­gen auf, die boden­los schei­nen, obwohl sie es eigent­lich nicht sind. – Albert Camus spricht von „Selbst­mord“, ohne sich tat­säch­lich umzu­brin­gen. Das Auf­ge­hen in per­ma­nen­ter Sor­ge ist ein sol­cher Fall, sich durch Selbst­über­for­de­rung per­ma­nent abzu­len­ken vom eige­nen Selbst.

    Vie­le Mei­ster­er­zäh­lun­gen schil­dern die­ses Wag­nis, sich tat­säch­lich auf die ima­gi­nä­re Rei­se zu bege­ben, um dem eige­nen Selbst zu begeg­nen. Es gilt, sich wirk­lich mit dem dunk­len Selbst aus­ein­an­der­zu­set­zen und sich nicht abzu­len­ken von dem, was unse­re eigent­li­che Auf­ga­be wäre, unse­re inne­ren Wer­te zu suchen, zu fin­den und zu entfalten.

    Woher stam­men eigent­lich die eige­nen Wer­te? Wir glau­ben zu wis­sen, wie eine roman­ti­sche Begeg­nung aus­zu­se­hen hat und insze­nie­ren sie nur. Wir glau­ben zu wis­sen, wie ein Kuß aus­schau­en muß, um als Aus­druck von Zunei­gung, Lie­be oder Begeh­ren zu gel­ten. Immer­zu geht es nur um die Insze­nie­rung von etwas, das erstre­bens­wert scheint.

    Das zur Spra­che zu brin­gen, habe ich mir theo­re­tisch und prak­tisch zur Auf­ga­be gemacht in einer Kom­bi­na­ti­on, die ich als phi­lo­so­phi­sche Psy­cho­lo­gie betreibe.

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Motive der Mythen,  Utopie,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Worauf es wirklich ankommt.

    Vortrag: Bildungshaus Batschuns, Österreich, 11.06.2021

    In einer Kri­se zeigt sich, wer wir sind und wor­auf wir uns wirk­lich ver­las­sen kön­nen und wie sta­bil die Ver­hält­nis­se wirk­lich sind. Ob wir es wol­len oder nicht: Kri­sen sind Bewäh­rungs­pro­ben, dann zeigt sich, ob wir uns anpas­sen, ver­än­dern oder viel­leicht sogar über uns hin­aus­wach­sen können.

    Reden stärkt, vor allem Ver­ste­hen. Angst schwächt, eben­so wie Hetz­kam­pa­gnen, das alles ver­wirrt und schmä­lert die Kräf­te. – Neue Stär­ken ent­ste­hen, sobald wir läh­men­de Äng­ste behut­sam überwinden.

    Eine Kri­se kann vor­über­ge­hend sein, im psy­cho­lo­gi­schen Sin­ne sind Kri­sen jedoch nur der Anfang umfas­sen­der Wand­lungs­pro­zes­se. – In Mär­chen und Mythen macht die Kri­se den Anfang, dann folgt zunächst die Kathar­sis und dar­auf die Transformation.

    Vor allem für die Päd­ago­gik zei­gen die Erfah­run­gen der letz­ten 15 Mona­te, daß die Welt von Men­schen gemacht und zu ver­ant­wor­ten ist. Auch die Men­schen­bil­der, die Unkul­tur öffent­li­cher Debat­ten, der Rück­fall in fast reli­giö­se Äng­ste, das alles gibt zu denken.

    Die­se Welt, so wie sie ist, hat kei­ne Zukunft. Dabei ist die Kli­ma­fra­ge nur wie die Spit­ze eines Eis­bergs. Wich­tig wäre es, end­lich auch in der Poli­tik ein posi­ti­ves Men­schen­bild an den Tag zu legen, wie es in Päd­ago­gik und Psy­cho­lo­gie schon seit den 70er Jah­ren üblich ist. Staat, Poli­tik und Behör­den gehen aber immer noch vom Obrig­keits­staat aus, wenn sie mei­nen, mün­di­ge Men­schen vor sich selbst schüt­zen zu müssen.

    Das Bild vom Guten Hir­ten und sei­ner Her­de ist obso­let, es soll­te den vie­len Auto­kra­ten über­las­sen wer­den. Der in der Coro­na-Kri­se erstark­te Staat wird blei­ben. Daher müs­sen die Gegen­ge­wich­te gestärkt wer­den, also brau­chen wir mehr Demo­kra­tie und mehr Gerichts­hö­fe, an denen sich Staat und Poli­tik recht­fer­ti­gen müssen.

    Das wird aber alles nicht rei­chen, wenn man bedenkt, was eigent­lich alles inzwi­schen zur Nei­ge geht. Aller­dings war die Zivi­li­sa­ti­on, seit sie vor 12.000 Jah­ren ent­stand, immer schon eine insta­bi­le Angelegenheit.

    Vor allem jene Ent­wick­lun­gen, auf die Päd­ago­gik, Psy­cho­lo­gie und Phi­lo­so­phie beson­ders Wert legen, sind über­haupt nicht mit­ge­kom­men. – Das Feh­len­de nach­zu­ho­len ist und bleibt eine Auf­ga­be, in der es vor allem sehr viel sehr pro­fes­sio­nel­le Päd­ago­gik braucht. Schließ­lich ist jeder Mensch ein­zig­ar­tig, dar­in lie­gen Hoff­nun­gen, nur nie­man­den zu verlieren.

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Moral,  Motive der Mythen,  Religion,  Theorien der Kultur,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    LIVE! music, life et cetera…

    Heming­way Lounge | Uhland­str. 26 | 76135 Karlsruhe

    LIVE! . music, life et cetera . 

    Talk mit Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nen­nen: “Von Frei­heits­lie­be und der Sehn­sucht nach Kontrolle” .

    Ull­rich Eiden­mül­ler im Talk mit Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nennen

    Was hat das Corona–Virus mit uns gemacht? Wie weit hat es die Welt ver­än­dert und wird sie noch ver­än­dern? Wel­che Tie­fen hat das Virus in der Gesell­schaft bloß­ge­legt? — Könn­te es zu sol­chen Fra­gen am Beginn der „Rück­kehr der Frei­heit“ einen kom­pe­ten­te­ren Gesprächs­part­ner geben als ein Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie an der Fakul­tät für Gei­stes- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten am Karls­ru­her Insti­tut für Tech­no­lo­gie (KIT)?

    Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen Gesprächs­part­ner von Ull­rich Eiden­mül­ler beim tra­di­tio­nel­len Talk in der Heming­way Lounge sein. Der Phi­lo­soph, der sei­ne Zeitgeist–Analysen seit Jah­ren aus sei­nem Wohn­mo­bil am Kanal in Mün­ster schreibt, ana­ly­siert die Aus­wir­kun­gen auf das täg­li­che Leben, den „Ver­lust an Nähe, den wir zu ver­kraf­ten haben, die Unkul­tur der Ver­un­glimp­fung Anders­den­ken­der, das frü­he Schlie­ßen der gesell­schaft­li­chen Dis­kur­se schon im März 2020“.

    Freu­en Sie sich auf ein sprit­zi­ges und tief­ge­hen­des Gespräch in der wie­der­eröff­ne­ten Lounge, unter­malt wie immer von der Musik, die Prof. Dr. Heinz–Ulrich Nen­nen mitbringt.

  • Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Theorien der Kultur,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Heilsame Phase innerer Einkehr

    Die Pandemie zwischen kritischer und positive Betrachtung

    Interview, Vorarlberger Nachrichten, 5. Juni 2021

    Die Pan­de­mie zwi­schen kri­ti­scher und posi­ti­ver Betrachtung.

    Es ist sehr viel die Rede von einer ver­lo­re­nen Gene­ra­ti­on. Ist es wirk­lich so schlimm? 

    NENNEN Wer von einer „ver­lo­re­nen Gene­ra­ti­on“ spricht, stellt einen Ver­gleich her, der nicht ange­mes­sen sein kann. Bezeich­net wur­den damit die Kriegs­teil­neh­mer des Ersten Welt­kriegs. Erst all­mäh­lich ver­ste­hen wir, was das bewirkt hat an Lei­den. Da sind nicht phy­si­sche, son­dern psy­chi­sche Exi­sten­zen auf Dau­er ver­nich­tet wor­den. Wir kön­nen heu­te erst all­mäh­lich nach­voll­zie­hen, was Trau­ma­ti­sie­rung eigent­lich bedeu­tet. Erschreckend ist vor allem eines: dass so etwas wei­ter­ge­ge­ben wird, weil eine Gene­ra­ti­on über­for­dert ist mi der Auf­ar­bei­tung sol­cher Erlebnisse.

    Oft ver­weh­ren sich Jugend­li­che gegen eine sol­che Bezeich­nung. Ist die Jugend doch stär­ker, als wir es ihr zutrauen?

    NENNEN Es kommt immer auf die Rela­ti­on an. Coro­na hat die übli­chen Erwart­bar­kei­ten erheb­lich ver­un­si­chert, gera­de das wür­de ich nicht als schlimm betrach­ten, son­dern eher als Chan­ce. Unsi­che­re Zei­ten bie­ten immer auch neue Mög­lich­kei­ten. Wir leben ohne­hin in einer Zeit, in der die Jugend im Auf­wind begrif­fen ist. Coro­na war nur eine Ver­zö­ge­rung des anste­hen­den Generationenwechsels.

    Inso­fern ist es ein soli­der Selbst­be­zug, sich nicht in die Opfer­rol­le drän­gen zu las­sen. Es ist kei­ne ver­lo­re­ne, es ist eine kom­men­de Gene­ra­ti­on. Was mir aber von Stu­die­ren­den mit­ge­teilt wird, zeigt, dass die Bela­stun­gen gera­de für die unter 30–Jährigen ganz erheb­lich sind. 

    Können/sollten da nicht eher die Erwach­se­nen etwas lernen?

    NENNEN Aller­dings. Es sind von Anfang an in der Coro­na­kri­se bestimm­te Zei­chen gesetzt wor­den, die ein gene­rel­les Miss­trau­en in die Jugend signa­li­siert haben. Das wider­spricht den Prin­zi­pi­en huma­ner Päd­ago­gik und huma­ner Psy­cho­lo­gie. Offen­bar sind Gesell­schaft und Staat noch immer nicht reif genug, vom Obrig­keits­den­ken abzusehen.

    Aber die­ser Para­dig­men­wech­sel ist längst über­fäl­lig. Es ist zu erwar­ten, dass vie­les, was bis­lang für unmög­lich gehal­ten wur­de, plötz­lich nicht nur mach­bar, son­dern leb­bar wer­den kann.

    Wo spielt sich der größ­te Wan­del ab, wenn es denn einen sol­chen gibt?

    NENNEN Der größ­te Wan­del spielt sich in Macht­fra­gen ab. Fast über Nacht sind Poli­tik und Staat ermäch­tigt wor­den, die Geschicke der Gesell­schaft nicht nur zu bestim­men, son­dern auch zu for­men. Das wird so blei­ben. Die Kri­se hat uns vor Augen geführt, wie ver­wund­bar unse­re Syste­me sind. Das Gleich­ge­wicht der Gewal­ten ist gestört, daher müs­sen die Gegen­ge­wich­te stär­ker wer­den. Wir brau­chen mehr Par­ti­zi­pa­ti­on, auch Basis­de­mo­kra­tie und vor allem auch mehr Rich­ter und rich­ter­li­che Unabhängigkeit.

    Zu Beginn der Pan­de­mie wur­de viel von neu­en Tugen­den gespro­chen, wie Ent­schleu­ni­gung, bewuss­te­res Wahr­neh­men von allem usw. Was wird davon bleiben?

    NENNEN Es war eine heil­sa­me und immer wie­der ver­län­ger­te Pha­se der inne­ren Ein­kehr. Man konn­te die Erfah­rung machen, was so alles von den vie­len Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten eigent­lich auch ver­zicht­bar sein kann. Aber Coro­na war nicht gleich und schon gar nicht gerecht, es hat die Schwä­che­ren sehr viel här­ter getrof­fen. Dar­auf muss eine Gesell­schaft reagie­ren, und der Staat hat die Auf­ga­be, ihr dabei zu helfen.

    Gibt es Wer­te, von denen wir uns tren­nen sollten?

    NENNEN Eini­ge Hal­tun­gen, die zuvor noch Aner­ken­nung fan­den, haben sich selbst ad absur­dum geführt: Kon­su­mis­mus ist nicht Frei­heit, Neo­li­be­ra­lis­mus ist nicht Ver­ant­wor­tung, Mis­an­thro­pis­mus ist nicht Sor­ge, Glau­bens­krie­ge sind kei­ne Dis­kur­se. Das alles hilft über­haupt nicht, den Weg in eine Zukunft zu fin­den, in der die Mensch­heit all­mäh­lich den Weg zur Selbst­ver­ant­wor­tung fin­den und gehen sollte.

    Wel­che Wer­te sind es wert, bei­be­hal­ten zu werden?

    NENNEN Die „Wer­te“, von denen immer­zu gespro­chen wird, sind oft nicht wirk­lich die eige­nen. Wir alle glau­ben zu wis­sen, wie Fami­li­en­glück, Mut­ter­lie­be, wie Jugend, Lie­be oder eine roman­ti­sche Situa­ti­on per­fekt aus­zu­se­hen haben, und wir alle kön­nen uns dabei beob­ach­ten, wie wir ent­schei­den­de Situa­tio­nen so insze­nie­ren, dass sie auch tat­säch­lich „rich­tig“ aus­se­hen. Kurz­um, wir insze­nie­ren uns und unser Leben nach Maß­stä­ben, die nicht die eige­nen sind. Ich möch­te in mei­nem Vor­trag eine ele­men­ta­re Kri­tik an der Selbst­ori­en­tie­rung, wie sie gera­de gelebt wird, vor­brin­gen. Zugleich möch­te ich Wege wei­sen, wie es mög­lich sein könn­te, tat­säch­lich zu sich selbst zu finden. 

    Was soll­te uns die Pan­de­mie gelehrt haben?

    NENNEN Wir soll­ten end­lich gese­hen und erkannt haben, wie kost­bar mensch­li­che Ver­bin­dun­gen sind und wie sehr es auf Berüh­run­gen ankommt, im umfas­sen­den Sin­ne des Wor­tes. Das ist mei­nes Erach­tens die eigent­li­che Leh­re aus der Pandemie.

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Moderne,  Moral,  Professionalität,  Technikethik,  Theorien der Kultur,  Utopie,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Grundrechte in der Corona-Krise

    Das Schweigen der Richter

    Von der Mond­lan­dung bis zum Lockdown

    Wer die Mond­lan­dung am Fern­se­her live mit­er­lebt hat, hat viel­leicht auch die­ses Erweckungs­er­leb­nis. Wenn so etwas mög­lich war, dann schien eigent­lich alles mach­bar. Dann kam es 1972 mit den Stu­di­en des Club of Rome zu einer Fun­da­men­tal­kri­se aller die­ser Hoff­nun­gen. — Auch das Grund­ge­setz hat­te immer etwas von die­ser Mond­lan­dung, es war und ist eine über­zeit­li­che Lei­stung mit Ewig­keits­cha­rak­ter. Die­ses Sicher­heits­ge­fühl hat sich gehal­ten, wohl weil die Per­for­mance stets stim­mig schien, wenn >Karls­ru­he< sprach.

    Leben oder Frei­heit – Ist die Coro­na-Poli­tik mit dem Grund­ge­setz ver­ein­bar? — SWR2-Forum,

    Tho­mas Ihm dis­ku­tiert mit

    Gigi Dep­pe, SWR-Rechts­exper­tin,
    Prof. Dr. Chri­sti­an Kirch­berg, Rechts­an­walt
    Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen, Phi­lo­soph

    Das hat­te etwas von Del­phi, wo die Prie­ster in ihren Sit­zun­gen dar­über berie­ten, was Apol­lo als Herr des Hau­ses wohl gesagt haben wür­de. Aller­dings ist ein Ora­kel wie das von Del­phi auch nur ein Unter­neh­men mit dem Bestre­ben, mög­lichst immer wie­der kon­sul­tiert zu wer­den. Und 1000 Jah­re kamen Men­schen und Staats­ver­tre­ter aus dem gan­zen Mit­tel­meer­raum mit höchst ent­schei­den­den Fra­gen, es kann also kein Hokus­po­kus gewe­sen sein.

    Wenn die Rich­ter in den roten Roben zusam­men­tra­gen, dann hat­te das etwas von die­ser Aura: Immer wenn bewe­gen­de Urtei­le anstan­den, fand sich mit­un­ter auch eine Spur jener Weis­heit, wie sie nun ein­mal einer letz­ten Instanz anste­hen. — Auch das ist kein Hokus­po­kus, erfor­der­lich ist gutes Hand­werk, hohe Intel­li­genz, Dis­kurs­ver­mö­gen und vor allem eines, der gemein­sa­me Wil­le im Kol­le­gi­um, her­aus­zu­brin­gen, was wohl die Stim­me der Ver­nunft gesagt haben würde.

     

    (Mein Bei­trag beginnt ab: 23:30)

    Tie­fen und Untie­fen der Corona-Krise
    Online-Dis­kus­si­on vom 9. Febru­ar 2021. Einf. u. Mod.: Ull­rich Eiden­mül­ler,

    1. Vor­sit­zen­der des För­der­ver­eins FORUM RECHT e. V. 
    Refe­ren­ten:
    Prof. Dr. Chri­sti­an Kirch­berg (* 1947), Rechts­an­walt in Karls­ru­he und Vor­sit­zen­der des Ver­fas­sungs­rechts­aus­schus­ses der Bundesrechtsanwaltskammer. 

    Prof. Dr. Heinz-Ulrich Nen­nen (* 1955), Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie am Karls­ru­her Insti­tut für Tech­no­lo­gie (KIT). 

    Black­out mit Notstromdiesel

    Wer am 31. Janu­ar 2008 gegen 17:35 Uhr per Stra­ßen­bahn die Innen­stadt von Karls­ru­he auf dem Weg zum Haupt­bahn­hof pas­sie­ren woll­te, konn­te erle­ben, wie ein Strom­aus­fall sich vor Ort dar­stellt: Das Licht ging aus, die Bahn hielt mit­ten auf der Strecke, drau­ßen war nichts mehr zu sehen. Spär­li­ches Licht flacker­te auf, die Umge­bung wirk­te gespen­stisch. Nur sche­men­haft war erkenn­bar, wie Per­so­nal an den Türen der Geschäf­te sich postierte.

    Carl Spitzweg: Das Auge des Gesetzes (Justitia) (1857).
    Carl Spitz­weg: Das Auge des Geset­zes (Justi­tia) (1857).

    Ich ent­schloß mich, die Not­ent­rie­ge­lung der Stra­ßen­bahn­tür zu betä­ti­gen, aus­zu­stei­gen und ein Taxi zu neh­men, um die Fahrt zum Bahn­hof wei­ter fort­zu­set­zen. Die Impres­sio­nen auf die­ser Taxi­fahrt waren beein­druckend und lehr­reich: Der Weg führ­te an der Badi­schen Lan­des­bank vor­bei. Sie war beleuch­tet, die Not­strom­ver­sor­gung war also ange­sprun­gen. Dann fiel der näch­ste Blick auf das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt. Das Gebäu­de war hell erleuch­tet, so, als wenn nichts wäre.

    Der­weil lag die Uni­ver­si­tät Karls­ru­he im Dunk­len und nur das Rechen­zen­trum hat­te spär­li­ches Licht. Ein ein­zi­ger Hotel­flur war noch beleuch­tet. — An einem Kran­ken­haus führ­te der Weg nicht vor­bei. Dabei ist es wesent­lich, daß gera­de auch dort die stö­rungs­freie Strom­ver­sor­gung gewähr­lei­stet sein muß. Auch der Haupt­bahn­hof war hell erleuch­tet, denn die Deut­sche Bun­des­bahn ver­fügt über ein eige­nes Netz und eige­ne Strom­ver­sor­gung. Man hat­te nicht ein­mal etwas bemerkt von der Störung.

    Es ist wich­tig, sich vor Augen zu füh­ren, wie fra­gil unse­re sozio­tech­ni­schen Wel­ten eigent­lich sind. Es braucht nur klei­ne Unbe­dacht­sam­kei­ten, die zum Super­gau füh­ren kön­nen. – Ein war­nen­des Bei­spiel dazu sind die nicht über­flu­tungs­si­cher instal­lier­ten Not­strom­ag­gre­ga­te der Kern­kraft­werks­blöcke 1–3 von Fuku­shi­ma I.

    Mul­ti­ples Systemversagen

    Wir erwar­ten von unse­rer Tech­nik, daß Not­fall­sy­ste­me auto­ma­tisch hoch­fah­ren, das wird regel­mä­ßig geprobt — in der Tech­nik. Dabei soll­ten wir die­sel­ben Anfor­de­run­gen auch an die Sozia­len Syste­me stel­len. Gera­de in Kri­sen sind wir dar­auf ange­wie­sen, daß schlicht und ergrei­fend längst Vor­keh­run­gen getrof­fen wor­den sind.

    Immer wie­der wur­de die Unver­brüch­lich­keit des Grund­ge­set­zes beschwo­ren. Plan­spie­le und Sze­na­ri­en für Aus­nah­me­zu­stän­de wären bes­ser gewe­sen als Sonn­tags­re­den. Tat­säch­lich haben wir es mit einem mul­ti­plen System­ver­sa­gen zu tun. — Das Gleich­ge­wicht der Kräf­te ist in der Coro­na-Kri­se von Anfang an ins Ungleich­ge­wicht gera­ten und es hat >sich< auch nicht wie­der ein­ge­pen­delt. Was das bedeu­tet, läßt sich an einem Plat­ten­spie­ler erläu­tern, wenn auf der einen Sei­te der Ton­arm, also die Exe­ku­ti­ve und auf der ande­ren Sei­te das Gegen­ge­wicht, also die Judi­ka­ti­ve und vor allem auch die Legis­la­ti­ve für den rich­ti­gen Aus­gleich sorgen.

    Am 14. Mai 2020 hat das ober­ste Gericht zwei Ver­fas­sungs­be­schwer­den um Coro­na und Grund­rech­te nicht zur Ent­schei­dung ange­nom­men. Dabei boten gera­de die­se bei­den, fast muster­gül­ti­gen Ver­fas­sungs­kla­gen die Gele­gen­heit für die Ver­fas­sungs­rich­ter, sich gene­rell in Sachen Coro­na zu äußern. Das hät­te dann wie­der­um der Poli­tik sehr viel mehr Ori­en­tie­rung gegeben.

    Durch Nicht­ein­las­sung haben die Karls­ru­her Rich­ter jedoch selbst das Gleich­ge­wicht der Kräf­te zwi­schen Legis­la­ti­ve, Judi­ka­ti­ve, Exe­ku­ti­ve und auch zwi­schen Bund und Län­dern aus dem Gleich­ge­wicht und außer Kon­trol­le gebracht. — Hät­ten die Rich­ter sich über­wun­den, den Mut und die Weit­sicht gefun­den, im lau­fen­den Pro­zeß der Coro­na-Kri­se das Spek­trum des ver­fas­sungs­recht­lich Gebo­te­nen zu skiz­zie­ren, sie hät­ten die Poli­tik davor bewahrt, zum Opfer der eige­nen Angst­po­li­tik zu werden.

    Schön­wet­ter­de­mo­kra­tie?

    Das Par­la­ment als Ort öffent­li­cher Mei­nungs­bil­dung wur­de kur­zer­hand ersetzt durch eine ver­fas­sungs­recht­lich gar nicht vor­ge­se­he­ne Mini­ster­prä­si­den­ten-Kon­fe­renz unter Lei­tung der Bun­des­kanz­le­rin, in der man seit einem Jahr alle ent­schei­den­den Erwä­gun­gen unter Aus­schluß der Öffent­lich­keit vor­nimmt. — Dabei wur­de immer wie­der der Föde­ra­lis­mus schlecht gere­det, der aller­dings ein unver­füg­ba­res Gebot der Ver­fas­sung dar­stellt. Am Bei­spiel von Frank­reich läßt sich zei­gen, was es bedeu­tet, wenn kei­ne effek­ti­ven kom­mu­na­len Struk­tu­ren vor Ort vor­han­den sind.

    Auch die immer wie­der auf­ge­brach­te For­de­rung nach Gleich­be­hand­lung, ohne Rück­sicht auf die vor Ort tat­säch­lich vor­lie­gen­den Ver­hält­nis­se, ist stets unwi­der­spro­chen erho­ben wor­den. Dage­gen kam nur noch durch die Län­der­ho­heit über­haupt noch so etwas wie eine Pflicht zur Ver­hand­lung ins Spiel. Inso­fern wur­de das Land durch den Föde­ra­lis­mus vor einem radi­ka­len Zen­tra­lis­mus mit noch mehr Kol­la­te­ral­schä­den bewahrt.

    Alle die­se Vor­keh­run­gen der Gewal­ten­tei­lung sind vor dem Hin­ter­grund der Erfah­run­gen mit der Wei­ma­rer Repu­blik und der Mög­lich­keit einer >Gleich­schal­tung< getrof­fen wor­den. Aus guten Grün­den wur­de ein durch­dach­tes Kon­zept von Checks and Balan­ces mit dem Grund­ge­setz eta­bliert. Alle die­se ver­brief­ten Siche­run­gen durch das syste­ma­ti­sche Aus­ba­lan­cie­ren der Gewal­ten gal­ten bis­lang als ver­trau­ens­wür­dig, ver­läß­lich, ja eigent­lich als robust und gera­de­zu unver­wüst­lich. Dabei stell­te sich im Zuge derCoro­na-Kri­se her­aus, daß viel davon offen­bar nur >gefühl­teSicher­heit< war.

    Die Ver­trau­ens­wür­dig­keit des Grund­ge­set­zes und sei­ner Orga­ne wur­de in Sonn­tags­re­den immer wie­der gefei­ert. Als es aber zum Schwur kam, da schwie­gen die hohen Rich­ter. Das Mobilé der Gewal­ten kam aus dem Gleich­ge­wicht und ver­hak­te sich end­gül­tig. Ver­hält­nis­se kamen auf, die nicht hat­ten mög­lich sein sol­len, auch und gera­de in einer Kri­se nicht. — Für den Satz >Not kennt kein Gebot< gibt es nicht einen ein­zi­gen denk­ba­ren Anwen­dungs­fall, weil eine Ver­fas­sung genau dann ver­läß­lich sein muß, wenn es dar­auf ankommt. Wir leben nicht in einer Schön­wet­ter­de­mo­kra­tie. Ganz offen­bar fehlt aller­dings ein fun­da­men­ta­ler Dis­kurs über Not­stand und Grund­ge­setz. Kevin allein zu Haus

    Nun war die Poli­tik ganz >allein zu Hau­se<. Kei­ne ande­ren Gewal­ten, kei­ne Lob­bys und auch kei­ne Kri­ti­ker moch­ten sich noch zu Wort mel­den, denn vie­le von ihnen waren bereits exkom­mu­ni­ziert. In den vie­len Talk­shows sah man immer wie­der die Anspan­nung in den Gesich­tern, bloß nicht ein womög­lich ver­rä­te­ri­sches Wort zu benut­zen, das unmit­tel­bar zur Exkom­mu­ni­ka­ti­on geführt hätte.

    Die­ser Zustand ist eine sozio-kul­tu­rel­le Kata­stro­phe, denn die­se Kon­stel­la­ti­on ent­spricht genau dem, wovor der Sozio­lo­ge Niklas Luh­mann immer wie­der gewarnt hat: Angst­kom­mu­ni­ka­ti­on und Ent­dif­fe­ren­zie­rung. Das bedeu­tet in Ana­lo­gie nichts gerin­ge­res als ein mul­ti­ples System­ver­sa­gen. Es ist ein Rück­fall in den Abso­lu­tis­mus, wenn die Gesell­schaft in künst­li­ches Koma ver­setzt wird. — Die Poli­tik ist völ­lig über­for­dert, sie kann nicht lei­sten, was sie sich da auf­bür­den läßt. Daher wer­den die Maß­nah­men immer radi­ka­ler und immer end­lo­ser.

    Das Schwei­gen der Richter

    Gewal­ten­tei­lung, Föde­ra­lis­mus, Mei­nungs­ver­schie­den­heit, Dis­kur­se, der Anspruch auf Selbst­ver­ant­wor­tung und Mün­dig­keit, das alles sind kei­ne Stö­run­gen, gera­de in einer Kri­se nicht. Aber vie­len wur­de weis­ge­macht, daß dem so wäre. Man­che gaben dem nach, ande­re blie­ben beim Zwei­fel und durch die Gesell­schaft ging ein Riß, bei dem sich die unter­schied­li­chen Ansich­ten nicht mehr mit­ein­an­der ins Gespräch brin­gen lie­ßen. — Dabei ist gera­de die Viel­falt der Hin­sich­ten die alles ent­schei­den­de Bedin­gung für die Mög­lich­keit einer umsich­ti­gen Poli­tik und einer zeit­ge­nös­si­schen Kul­tur, die dem Unter­ta­nen­geist, Fremd­be­stim­mung und der Bevor­mun­dung end­gül­tig Valet sagen sollte. 

    Die Corona–Krise bie­tet auch eine Chan­ce, den Unter­ta­nen­geist in Deutsch­land end­lich zu über­win­den, den auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter und vor allem das mis­an­thro­pi­sche Men­schen­bild. War­um über­tra­gen wir nicht den Geist der Reform­päd­ago­gik auch auf ein neu­es Ver­ständ­nis einer zeit­ge­mä­ßen Poli­tik? In Psy­cho­lo­gie und Päd­ago­gik wird spä­te­stens seit den 70er Jah­ren nicht mehr mit Bevor­mun­dung, son­dern mit Ein­ver­neh­men agiert.

    Wir müs­sen unbe­dingt unter­schei­den zwi­schen Staat, Gesell­schaft und Gemein­schaft. Wer das alles zusam­men­bringt, führt zumeist nichts Gutes im Schil­de. – Ein Staat ist kei­ne Gemein­schaft, auch eine Gesell­schaft ist er nicht. Unge­hin­dert ver­geht sich der Staat nicht sel­ten an der Gesell­schaft, denn Staat und Gesell­schaft zie­hen nicht unbe­dingt an einem Strang. Daher ist die Ver­fas­sung so ent­schei­dend, weil sie erst die Rah­men­be­din­gun­gen schafft und sicher­stellt, daß alle die­se Gewal­ten getrenn­ter Wege gehen müs­sen. Sie sol­len nicht eins sein, sie sol­len und müs­sen mit­ein­an­der rin­gen: “Audi­ta­tur et alte­ra pars” — Man höre auch die ande­re Sei­te. Das fin­det wie­der­um im Art. 103 Abs. 1 des Grund­ge­set­zes sei­ne Ent­spre­chung: Vor Gericht hat jeder­mann Anspruch auf recht­li­ches Gehör.”

    Die Prü­fung der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit obliegt den Ver­fas­sungs- und Ver­wal­tungs­ge­rich­ten. Seit Beginn der Coro­na-Kri­se wur­de erwar­tet, daß enor­me Unver­hält­nis­mä­ßig­kei­ten kon­sta­tiert wür­den. Das war aber nicht der Fall. Auch war es nicht der Fall, daß klä­ren­de Wor­te durch ober­ste Rich­ter gespro­chen wor­den wären. — Ein nicht unbe­trächt­li­cher Anteil an der Pro­test­kul­tur läßt sich auch auf das Schwei­gen der Rich­ter zurück­füh­ren und die Unsi­cher­heit, in der die Gesell­schaft sich selbst über­las­sen wurde.

    Die Corona–Krise ist ein umfas­sen­der, mehr als nur poli­ti­scher, son­dern viel­mehr sozio­kul­tu­rel­ler Kon­flikt von höch­ster Bri­sanz. Über Wochen und Mona­te wur­den grund­sätz­li­che Urtei­le und Ein­las­sun­gen des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts förm­lich gewar­tet, aber nichts geschah. — Es mutet an, als hät­ten die Rich­ter in den roten Roben, wie wei­land der römi­sche Stadt­hal­ter Pon­ti­us Pila­tus, sich eine Schüs­sel mit Was­ser rei­chen las­sen, um die Hän­de in Unschuld zu waschen.

  • Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Moral,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Karlsruher Philosoph erkennt mit Corona Zeitenwende

    „Es ist phä­no­me­nal, was sich die­ser Tage ereignet“

    Der am KIT for­schen­de Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sor Heinz-Ulrich Nen­nen sieht mit Coro­na eine neue Zeit angebrochen

    Die Coro­na-Kri­se ist zu einem der aktu­el­len For­schungs­schwer­punkt des am KIT täti­gen Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sors Heinz-Ulrich Nen­nen gewor­den. Der Gei­stes­wis­sen­schaft­ler unter­sucht die Aus­wir­kun­gen der welt­wei­ten Virus­kri­se auf den Umgang der Men­schen unter­ein­an­der und die Moralvorstellungen. 

    Inter­view mit Wolf­gang Voigt. In: Badi­sche Neue­ste Nach­rich­ten, 8. Mai 2020. 

    Der Phi­lo­soph Heinz-Ulrich Nen­nen erkennt in der Coro­na-Kri­se den Beginn einer neu­en Zeit.

    Wie wirkt die Coro­na-Kri­se auf das Leben der Men­schen, wie auf Moral­vor­stel­lun­gen und den Umgang mit­ein­an­der? Die Beschäf­ti­gung mit sol­chen Fra­gen nennt der am KIT täti­ge Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sor Heinz-Ulrich Nen­nen, „Phi­lo­so­phie in Echt­zeit“. Mit dem Gei­stes­wis­sen­schaft­ler sprach BNN-Redak­teur Wolf­gang Voigt.

    Laut Bun­des­tags­prä­si­dent Wolf­gang Schäub­le bedeu­tet die Wür­de des Men­schen nicht not­wen­dig, dass alles ande­re hin­ter dem Schutz von Leben zurück­tre­ten muss. Eine halt­ba­re These?

    Heinz-Ulrich Nen­nen: Der Bun­des­tags­prä­si­dent hat kraft sei­nes Amtes und viel­leicht auch vor dem Hin­ter­grund sei­nes per­sön­li­chen Schick­sals, Atten­tats­op­fer gewor­den zu sein, einen ziem­lich unspek­ta­ku­lä­ren Gedan­ken in die über­hitz­te Debat­te geworfen.

    Wir haben Güter­ab­wä­gun­gen vor­zu­neh­men, und seit wir die Göt­ter in vie­lem beerbt haben, umso mehr. Wolf­gang Schäub­le hat einen Impuls gesetzt, und das war gut. Ich wer­de nie ver­ges­sen, wie mein Dok­tor­va­ter, Pro­fes­sor Wil­helm Goerdt, der in Russ­land in Gefan­gen­schaft war, reagier­te, als ich ihm die Dring­lich­keit einer öko­lo­gi­schen Wen­de dar­stel­len woll­te: „Schließ­lich geht es ja um unser aller Leben!“

    Er sag­te unge­rührt und ziem­lich fest: „Ist das alles?“ Mir gab das zu den­ken. Um es mit Schil­ler zu sagen: „Das Leben ist der Güter höch­stes nicht, der Übel größ­tes aber ist die Schuld.“

    Ist die Ret­tung des Wirt­schafts­le­bens ange­sichts der Lebens­ge­fahr für Risi­ko­grup­pen also ein legi­ti­mes Anliegen?

    Die Eng­füh­rung, ent­we­der Wirt­schaft oder Tod, ist ten­den­zi­ös. Aber in der Tat hat die Wirt­schaft nie einen Hehl dar­aus gemacht, einer absur­den Theo­rie vom Markt als frei­er Wild­bahn zu frö­nen. Die Poli­ti­ker, ins­be­son­de­re die Kanz­le­rin, die zu der Ent­schei­dung gekom­men ist, den Not–Aus–Schalter zu betä­ti­gen, waren der Auf­fas­sung, das ein­zig Rich­ti­ge zu tun. Es ist eine Schock-Star­re, die dar­auf ein­ge­tre­ten ist.

    Zwei­fels­oh­ne ist mit der Corona–Krise ein Para­dig­men­wech­sel von­stat­ten gegan­gen. Die Poli­tik war bis­lang die Magd der Wirt­schaft, wie es einst die Phi­lo­so­phie der Theo­lo­gie gegen­über war. Und urplötz­lich ist die Poli­tik die unum­strit­te­ne Her­rin im Haus.

    Sehen Sie Anzei­chen für einen mora­li­schen Fort­schritt, der sich durch die Kri­se ein­stellt? Wenn ja, wie sieht er aus?

    Die Welt danach wird eine ande­re sein. Es gibt drei mög­li­che Sze­na­ri­en: ein auto­ri­tä­res, eines, das allen Ern­stes glaubt, man könn­te zum vor­ma­li­gen All­tag zurück­keh­ren, und ein drit­tes Sze­na­rio, das den Kai­ros, also den glück­li­chen Augen­blick, beim Schopf ergrei­fen will.

    Unterm Strich sehe ich schon einen mora­li­schen Fort­schritt, weil das bis­he­ri­ge Ver­ständ­nis von Poli­tik kol­la­bie­ren muss. Das mit­tel­al­ter­li­che Bild vom Guten Hir­ten mit einer Her­de, die der Füh­rung bedarf, wird durch die Kri­se über­holt. Es war immer schon inhu­man, den Men­schen als sol­chen zu ver­ach­ten und ihm gar kei­ne Chan­cen zu geben, sich selbst zu verbessern.

    Wir sind also Zeu­gen einer Zeitenwende?

    Es ist phä­no­me­nal, was sich die­ser Tage ereig­net. Viel­leicht ist es in der Tat eine Epo­chen-Wen­de, min­de­stens ist es der Über­gang in eine Poli­tik, die sehr viel mehr Mit­be­stim­mung mög­lich machen wird. Das ist auch mei­ne Fun­da­men­tal-Kri­tik an der Poli­tik in der Corona–Krise.

    Das Virus mag gefähr­lich sein. Aber die Ein­grif­fe in Grund­rech­te und das damit doku­men­tier­te Miss­trau­en in die Mün­dig­keit und das Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein der Bür­ger ist eine Her­ab­set­zung sondergleichen.

    Wie beur­tei­len Sie den Umstand, dass die Coro­na-Maß­nah­men rasant getrof­fen wur­den, wäh­rend sich beim Kli­ma­schutz seit Jah­ren eher wenig tut?

    Gre­ta Thun­berg hat zwei­mal eine Ver­wün­schung aus­ge­spro­chen, in New York und in Davos: „I Want You to be in Panic!“ Genau das ist gesche­hen, nur anders als gedacht. Im Hin­ter­grund steht ein neu­er Generationenvertrag.

    Dabei ist es bemer­kens­wert, dass man mit der Gene­ra­ti­on der Jün­ge­ren gar nicht erst spricht. Aber ange­sichts von Coro­na lässt sich kon­sta­tie­ren, dass die Gene­ra­ti­on der Jün­ge­ren ihre Rück­sicht nimmt, um der Gene­ra­ti­on der Älte­ren, die ihrer­seits Rück­sicht neh­men soll­te, das mög­lichst lan­ge Leben nicht zu gefährden.

    Die­ser Hin­ter­grund jeden­falls ist eine Iro­nie der Geschich­te, und es spricht Bän­de, dass sich die Coro­na-Maß­nah­men genau gegen die Jün­ge­ren rich­ten, vor allem auch gegen die Kin­der, ohne sie selbst zu Wort kom­men zu lassen.

    Gegen­wär­tig gilt der Pri­mat der Viro­lo­gen. Kommt da die Phi­lo­so­phie zu kurz?

    Aber gewiss. Was Wolf­gang Schäub­le ange­merkt hat, ist anders von Juli­an Nida–Rümelin gesagt wor­den, und Boris Pal­mer hat es über­setzt in den Jar­gon der Mora­li­sten: „Sie wol­len ja wohl nicht ver­ant­wort­lich sein für…“ – Dabei ist Pal­mer bewusst miss­ver­stan­den worden.

    Es ist ent­täu­schend, dass die mei­sten Zeit­ge­nos­sen den phi­lo­so­phi­schen Witz bei alle­dem ein­fach nicht ver­ste­hen. Das Lachen der Wei­sen ist eben eines, das die Offen­heit der Ent­wick­lun­gen stets mit bedenkt.

    Die Kri­se hat die System-Rele­vanz von Pfle­ge­kräf­ten, Super­markt-Per­so­nal oder auch Lkw-Fah­rern ans Licht gebracht. Braucht es hier eine gesell­schaft­li­che Neubewertung?

    Das ist eine Erkennt­nis, die von blei­ben­der Bedeu­tung sein dürf­te. Es ist ja bereits kon­sta­tiert wor­den, dass Applaus ganz nett ist aber nicht genügt. In der Tat wird es Ver­schie­bun­gen geben. Wich­tig ist auch, ob Divi­den­den aus­ge­schüt­tet wer­den in Kon­zer­nen, die sich haben einen Tropf anle­gen lassen.

    Die Ban­ken­kri­se war inso­fern eine gute Lek­ti­on. Neun­mal­klu­ge haben sich damals eine Stra­te­gie über­legt, sich vom Staat mit Steu­er­gel­dern ret­ten zu las­sen, und die Rech­nung ist auf­ge­gan­gen. Danach war alles wie immer, nur schlim­mer. So wird es nach der Corona–Krise nicht kom­men, denn die alte Welt ist längst unter­ge­gan­gen, es ist nur die Fra­ge, wie sie wie­der­ge­bo­ren wird.

    Wel­chen Ein­fluss hat Coro­na auf Ihre wis­sen­schaft­li­che Arbeit?

    Ich habe mich ent­schlos­sen, ein Buch über den Dis­kurs der Coro­na-Kri­se zu schrei­ben, wie ich es schon ein­mal bei einem noch lau­fen­den Skan­dal gemacht habe, näm­lich zur Sloterdijk–Debatte vor rund 20 Jahren.

    Es geht mir dabei um eine bestimm­te Metho­de, die ich „Phi­lo­so­phie in Echt­zeit“ genannt habe. Seit­her schrei­be ich an die­sem Buch mit dem Titel „Der Corona–Diskurs als Kathar­sis. Panik, Absturz, Kri­se und Transformation“.

  • Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Moderne,  Moral,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    „Bei Krisen rät die Philosophie zu Gelassenheit”

    KIT-Pro­fes­sor Heinz-Ulrich Nen­nen erkennt im Coro­na-Virus auch eine Chan­ce zur Bewährung.

    Inter­view mit Wolf­gang Voigt: In Badi­sche Neue­ste Nach­rich­ten, 7. März 2020.

    Wie beur­teilt ein Phi­lo­soph die der­zei­ti­ge Corona-Krise?

    Heinz-Ulrich Nen­nen ist in die­sem Fach seit 2004 als Pro­fes­sor am KIT tätig. Einer sei­ner For­schungs­schwer­punk­te ist die phi­lo­so­phi­sche Psy­cho­lo­gie. Regel­mä­ßig lädt er inter­na­tio­na­le Kory­phä­en zum „Phi­lo­so­phi­schen Salon“, einem renom­mier­ten Kolloquium.

    Mit Heinz-Ulrich Nen­nen sprach BNN-Redak­teur Wolf­gang Voigt.

  • Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Ethik,  Moderne,  Moral,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Karlsruher Philosoph kritisiert Corona-Politik

    „Man setzt auf Angst, Zwang, Kontrolle und Druck“

    Philosophie-Professor Heinz-Ulrich Nennen übt heftige Kritik an der herrschenden Politik während der Corona-Krise. Nur bestimmte Perspektiven seien im gesellschaftlichen Diskurs überhaupt zugelassen, beklagt der Geisteswissenschaftler.

    Heinz-Ulrich Nennen: Philosoph sieht negatives Menschenbild im Corona-Diskurs. Interview mit Wolfgang Voigt. In: Badische Neueste Nachrichten, 8.12.2020.

    Heinz-Ulrich Nen­nen lehrt als Phi­lo­soph am KIT und hat die Coro­na-Pan­de­mie sowie den Umgang mit ihr bereits früh als For­schungs­ge­gen­stand ent­deckt. Im Gespräch mit BNN-Redak­teur Wolf­gang Voigt kri­ti­siert Nen­nen die aktu­el­le Coro­na-Poli­tik und erklärt, wel­che Aus­wir­kun­gen die­se sei­ner Mei­nung nach auf die Men­schen hat.