Blick und Gegenblick

Giuseppe Cesari: Diana und Aktaion. Museum der feinen Künste, Budapest. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.
Giu­sep­pe Cesa­ri: Dia­na und Aktai­on. Muse­um der fei­nen Kün­ste, Buda­pest. — Quel­le: Public Domain via Wiki­me­dia Commons.

Jean Paul Sart­re hat in Das Sein und das Nichts eine Blick­ana­ly­se vor­ge­führt, die das Erblicken und das Erblickt­wer­den zur Dar­stel­lung bringt und dabei demon­striert, wie der Blick auf den Ande­ren die­sen zum Objekt degra­diert, selbst wenn das womög­lich gar nicht beab­sich­tigt ist. 

Das ist wie­der einer die­ser kon­sti­tu­ti­ven Brü­che, die mit dem Bewußt­sein in die Welt gekom­men sind: Wir sehen nicht nur, wir blicken. Wir wer­den nicht nur gese­hen, son­dern mit Blicken erfaßt, auch und eben selbst dann, wenn uns noch gar nicht bewußt gewor­den ist, daß wir soeben von einem Blick erfaßt wor­den sind.

Ich befin­de mich in einem öffent­li­chen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und längs des Rasens Stüh­le. Ein Mensch geht an den Stüh­len vor­bei. Ich sehe die­sen Men­schen, ich erfas­se ihn gleich­zei­tig als einen Gegen­stand und als einen Men­schen. Was bedeu­tet das? Was will ich sagen, wenn ich von die­sem Gegen­stand behaup­te, daß er ein Mensch sei? (Jean-Paul Sart­re: Das Sein und das Nichts. 10. Aufl., Ham­burg 1993. S. 457.) 

Der Blick, der den ande­ren erfaßt, ist weit mehr als nur ein­fa­ches Sehen, denn er nimmt dem Ande­ren die Eigen­heit, sei­ne Sub­jek­ti­vi­tät und macht ihn zu einem Objekt. Der Blick degra­diert den Ande­ren in sei­nem Sub­jekt­sta­tus, — nicht immer, aber immer dann, wenn es um einen begeh­ren­den oder taxie­ren­den Blick geht, denn dann ist es ein abschät­zen­der, viel­leicht auch abschät­zi­ger Blick. Inter­es­san­ter­wei­se geschieht das mit jedem Blick, der unbe­dacht auf Jeman­den fällt, der viel­leicht in die­sem Augen­blick selbst unbe­dacht sein mag. Sobald die­ser Blick aber selbst wie­der­um erblickt und mit einem Gegen­blick erwi­dert wird, sobald das Sehen als Gese­hen­wer­den gewahr wird, als Erblicken des Erblickt­wor­den­seins, geschieht die­se selt­sa­me Über­wäl­ti­gung: Das vor­ma­li­ge Sub­jekt des Blicks wird vom vor­ma­li­gen Objekt nun­mehr selbst zum Objekt eines wei­te­ren Blicks. Nicht nur unse­re Spra­che hat daher Magie, son­dern auch unser Blick hat irgend­ei­ne selt­sa­me magi­sche Macht.

Kul­tu­ren geben sich viel Mühe, die­se Kraft, die im Blick liegt, zu zäh­men, um die Kräf­te auf ihre Müh­len zu len­ken. Blicke wer­den geführt, gelenkt, gerich­tet und sie wer­den wie­der­um gede­mü­tigt, umer­zo­gen oder auch abge­lenkt. Der Blick, der bezeich­nen­de Aus­druck im Gesicht, eine Gestus, das alles ist bereits Poli­tik, ohne daß über­haupt irgend­et­was gesagt wer­den müß­te. — Kul­tur poli­ti­siert jeden Blick, denn sie legt es dar­auf an, vor­zu­schrei­ben, wer gewis­se Ein­blicke erhält und wer nicht. Immer gab und gibt es dabei den Ver­dacht, daß es neben der exo­te­ri­schen– noch eine eso­te­ri­sche Leh­re geben müs­sen, daß es eben Wahr­heit gibt, die nicht für die All­ge­mein­heit, son­dern die nur für Aus­er­wähl­te bestimmt sind.

Dabei brin­gen Taschen­spie­ler, Zau­ber­künst­ler, eben ›Illu­sio­ni­sten‹ genau die­se Wahr­heit stets wie­der aufs Neue her­vor. Blicke las­sen sich len­ken, füh­ren, ver­füh­ren, ablen­ken und völ­lig ver­wir­ren. Also wer­den nicht sel­ten frei­mü­tig Ein­blicke gewährt, nicht sel­ten um zu ver­ber­gen und zu ver­schlei­ern, was nicht gese­hen wer­den soll, was ande­re nicht nur nicht begeh­ren, son­dern gar nicht erst zu Gesicht bekom­men sol­len. — Die vie­len und nicht sel­ten mit dra­sti­schen Stra­fen beleg­ten Blick­ver­bo­te, den Gott­kö­ni­gen und Prie­ster­göt­tern, ins­be­son­de­re aber den Göt­tern gegen­über, zeu­gen davon, daß man immer schon ver­sucht war, die unge­bän­dig­te Magie des frei­en, unge­zwun­ge­nen, unge­zü­gel­ten und viel­leicht auch begehr­li­chen Blicks zu bezähmen.

Wenn jeder Blick mit die­ser selt­sa­men magi­schen Kraft aus­ge­stat­tet ist, das Erblick­te zum Objekt zu degra­die­ren, dann wären in der Tat auch Kai­ser, Hei­li­ge und sogar Göt­ter nicht davor gefeit. Also steht dar­auf der Tod, wie bei der Jagd­göt­tin Dia­na, die von Aktai­on rein zufäl­lig dabei erblickt wird, wie sie sich mit den Nym­phen beim Baden erfreut. — Die Göt­tin ist nackt, sie gibt sich alle Mühe, vor dem jun­gen Mann ihre Blö­ße zu bedecken, was ihr aber nicht gelingt. Zudem ist sie wie so man­che ande­re unter den ein­schlä­gi­gen Göt­tin­nen eiser­ne Jung­frau. Das dürf­te dar­auf zurück­zu­füh­ren sein, daß die Selb­stän­dig­keit einer Frau zu die­sen Zei­ten nur dann über­haupt vor­stell­bar zu sein schien, wenn sie eben ledig war und auch ledig blieb.

Die Göt­tin ist auf ihre Unschuld bedacht, sie will par­tout kei­ne Liebes–Erfahrungen mit Män­nern. Der begehr­li­che Blick des Aktai­on macht sie jedoch in einem ein­zi­gen Augen­blick zum Objekt sei­ner Begier­de. Aber gera­de Dia­na steht dafür ein, Jung­frau zu sein und es auch zu blei­ben. Über­rascht und über­rum­pelt ver­sucht sie sich dem begehr­li­chen Blick zu ent­zie­hen. Als ihr das nicht gelingt, bespritzt sie den Voy­eur mit Was­ser, wor­auf die­sem augen­blick­lich ein Hirsch­ge­weih wächst, das Sym­bol der Jagdgöttin.

Dem Jäger wer­den mehr als nur alle­go­ri­sche Hör­ner auf­ge­setzt, sie wach­sen ihm wirk­lich, er wird zum Beu­te­tier sei­ner eige­nen Jagd­lust. Ganz im Sin­ne der Dia­lek­tik von Blick und Gegen­blick wird der Jäger selbst zum Gejag­ten. Die eige­nen Jagd­hun­de spü­ren ihn auf, er will sich ihnen zu erken­nen geben, was ihm aber in der Gestalt eines Hir­schen und in Erman­ge­lung des Sprach­ver­mö­gens schwer­lich gelingt, also wird er von ihnen auf der Stel­le zer­fleischt. Immer­hin han­delt es sich hier um eine Theo­pha­nie. Da muß die Fra­ge auf­kom­men, nicht nur wie und war­um es über­haupt dazu kommt, son­dern auch, was eigent­lich mit einem Men­schen geschieht, der eine sol­che schick­sal­haf­te Begeg­nung hat. Wenn wir uns ober­fläch­lich mit dem Mär­chen­haf­ten die­ser Situa­ti­on abfin­den las­sen, dann ist es ein­fach nur eine unglück­li­che Lie­be. Der jun­ge Held ver­liebt sich eben augen­blick­lich in die gött­li­che Schö­ne, aber er ver­geht bereits an und in sei­ner Lie­be. Oder: Die hol­de Schö­ne ist so prü­de, so eitel, so panisch auf ihre Unbe­rührt­heit bedacht, so daß sie ein­fach alle, die ihr Avan­cen machen, die womög­lich auch noch anzüg­li­che Blicke wer­fen, augen­blick­lich töten muß. — Das alles ist viel zu kind­lich gedacht, wir wür- den damit ledig­lich ein wenig auf dem Kamm der mär­chen­haf­te Schaum­kro­ne sol­cher Mythen surfen.

Der vor allem doch auf­grund sei­ner erstaun­lich moder­nen Spe­ku­la­tio­nen über Gott, den Kos­mos und über den Men­schen, von der Kir­che als Ket­zer ver­brann­te Giord­a­no Bru­no, gibt nun die­ser Begeg­nung eine sehr viel tie­fe­re Bedeu­tung. Bei ihm wird alles zur Alle­go­rie: Der Jäger, das ist die Ver­nunft, die Jagd­hun­de, das ist der Ver­stand, die Göt­tin, das ist, was wir nur zu gern erken­nen wür­den aber nicht wirk­lich ertra­gen könnten.

Aktai­on steht hier für den Intel­lekt, auf der Jagd nach gött­li­cher Weis­heit im Augen­blick des Erfas­sens der gött­li­chen Schön­heit. (Giord­a­no Bru­no: Von den heroi­schen Lei­den­schaf­ten. Ham­burg 1989. S. 64.)

So kommt es dann zu die­ser erstaun­li­chen Wen­dung, zu einer Alle­go­re­se, die sehr viel mehr zu den­ken gibt, als die Ober­fläch­lich­kei­ten der mär­chen­haf­ten Züge die­ser Sto­ry, wenn Bru­no ver­lau­ten läßt: Er sah der gro­ße Jäger, er begriff, soweit das mög­lich ist, und ward zur Beu­te: er ging, um zu jagen und wur­de dann selbst die Beu­te. (Ebd. S. 65.)

Damit zeigt sich vor allem eines, daß der Blick in sei­ner ursprüng­li­chen Vor­stel­lung etwas Besitz­ergrei­fen­des hat, daß aber, wer den Blick unbe­dacht schwei­fen läßt, durch­aus auch Gefahr lau­fen kann, selbst ergrif­fen zu wer­den. Wir geben uns her­me­neu­tisch inso­fern viel zu schnell zufrie­den, wenn etwa ver­laut­bart wird, irgend­wer sei am Lie­bes­kum­mer zu Grun­de gegan­gen, wir soll­ten uns viel­mehr genau­er vor­stel­len, wodurch ein sol­cher Lie­bes­tod ver­ur­sacht wird.

Das Pro­blem ist, daß sich hier ein Mensch unbe­dach­ter­wei­se an einer Göt­tin ver­sucht, was bedeu­tet, daß ein Intel­lekt sich mal eben mit dem Gött­li­chen mißt. Wir kön­nen aber nicht erken­nen, wie die Göt­ter, wir müs­sen alles über einen Intel­lekt, über die Müh­len einer dis­kur­si­ven Ver­nunft, über unser Sprach- ver­mö­gen und qua Empa­thie müs­sen wir dann auch noch alles über unse­ren Kör­per als Medi­um erst in Erfah­rung brin­gen, was ein Gott eigent­lich von einem Moment zum ande­ren bereits erfaßt haben dürfte.

Wir müs­sen uns bei der Empa­thie, beim Ver­ste­hen und eben­so auch beim Ver­lie­ben erst in den her­me­neu­ti­schen Zir­kel hin­ein­be­ge­ben und uns anver­wan­deln, sobald wir uns für Jeman­den ernst­haft inter­es­sie­ren. Blick und Gegen­blick haben ihre urei­gen­tüm­li­che Dia­lek­tik, sie heben sich wech­sel­sei­tig auf. Die Jagd mag ja eine Alle­go­rie auch für die Lie­be sein, aber sie ist eben nicht wech­sel­sei­tig, wenn schluß­end­lich dann doch irgend­wer der Jäger und irgend­wer ande­res den Gejag­ten abge­ben muß. — Hier ist es kein mensch­li­ches Gegen­über, son­dern eine Gott­heit, mit der es die­ser Jäger auf­zu­neh­men ver­sucht, es ist Dia­na, die Göt­tin der Jagd.

In der Tat hat sie sich über­ra­schen las­sen, denn so, wie sie sich sehen las­sen muß, so, wie sie Aktai­on zu Gesicht bekommt, so woll­te sie sich nie einem Mann zei­gen und ›erge­ben‹ wird sie sich schon gar nicht. Sie also in die­ser Situa­ti­on eigent­lich zur Jagd–Beute gewor­den, aber sie wird sich ganz gewiß nicht erge­ben. — Es fal­len kei­ne Wor­te, was zwi­schen Göt­tern und Men­schen ohne­hin pro­ble­ma­tisch zu sein scheint. Dia­na bespritzt Aktai­on mit Was­ser und sie wirft einen empör­ten, stra­fen­den Blick auf den Ein­dring­ling, der die Idyl­le beim Baden so nach­hal­tig stört. Das jeden­falls genügt, so daß sich der Jäger auf der Stel­le verwandelt.

Es gilt zu ver­ste­hen, was da in die­sem Moment zwi­schen Aktai­on und Dia­na eigent­lich vor sich geht. Inner­halb von Sekun­den muß sich der Jäger unsterb­lich in die Jagd­göt­tin ver­liebt haben. Es genügt ein ein­zi­ger Blick, so daß er wie an einer offe­nen Wun­de förm­lich ver­blu­tet, weil ihm alle Ener­gie ein­fach ver­geht, bis eben das Auge erlo­schen ist, wobei hier die eige­nen Jagd­hun­de dem Dra­ma ein schnel­les Ende bereiten.

Der Jäger wird durch sei­nen begehr­li­chen Blick selbst zur Beu­te. Er wird zum Opfer sei­nes eige­nen Wil­lens, sei­ner viel zu gro­ßen Begier­de nach die­sem ver­meint­li­chen Objekt sei­ner Sehn­süch­te. Ange­sichts die­ser Göt­tin ver­liert er als Sub­jekt augen­blick­lich sei­ne Posi­ti­on und schon beginnt er damit, sich anzu­ver­wan­deln. Aber er schießt weit über das Ziel hin­aus, ver­liert sich selbst und ver­geht in dem, was er sieht. Er wird nicht wie­der auf sich selbst zurück­kom­men kön­nen, weil er sich mit die­sem ein­zi­gen Blick selbst aus den Augen ver­liert. Die Deu­tungs­mög­lich­kei­ten des Aktaion–Mythos, wie sie von Giord­a­no Bru­no vor­ge­führt wer­den, lie­fern tie­fe­re Ein­sich­ten in die alle­go­ri­schen Abgrün­de und sie bie­ten dann auch einen inter­es­san­te­ren Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis einer sol­chen Sze­ne­rie. Die Göt­tin mag ihn erbost mit Was­ser bespritzt haben, wor­auf ihm dann Hör­ner wach­sen, das Geweih eines Hir­schen. Aber die­se Anver­wand­lung ist nur eine Ver­zau­be­rung in dem Sin­ne, als daß der Jäger selbst zum Gejag­ten, zum Objekt einer Ver­zau­be­rung wird. So zeigt sich, wie ein­neh­mend mit­un­ter gera­de empa­thi­sche Impres­sio­nen sein können.

Zu Ehren der Jagd­göt­tin wird der Jäger selbst zu einem Hir­schen. Das ist bei­lei­be kei­ne Eben­bür­tig­keit mehr, statt­des­sen wird ein Opfer dar­aus, ein Selbst­op­fer. Der Jäger wird selbst zur schö­nen Beu­te, weil eben der mensch­li­che Intel­lekt sich die Din­ge auf eige­ne Wei­se aneig­nen muß und weil er dabei über­la­stet wer­den kann und dann ver­ge­hen, ja förm­lich ver­glü­hen muß:

Du weißt ja, daß der Intel­lekt sich die Din­ge auf dem Wege des Intel­lekts aneig­net, d. h. gemäß sei­ner eige­nen Wei­se. Und der Wil­le ver­folgt die Din­ge deren Natur nach, d. h. gemäß der Art, wie sie in sich selbst sind. So wur­de Aktai­on durch jene Gedan­ken, jene Hun­de, die außer­halb von ihm das Gute, die Weis­heit, die Schön- heit, das wil­de Wal­des­tier such­ten, und durch die Art, wie er die­ser schließ­lich ansich­tig wur­de, über soviel Schön­heit außer sich gera­ten, zur Beu­te. Er sah sich in das ver­wan­delt, was er such­te, und er merk­te, daß er sei­nen Hun­den, sei­nen Gedan­ken selbst zur ersehn­ten Beu­te wur­de. Weil er näm­lich die Gott­heit in sich zusam­men­ge­zo­gen hat­te, war es nicht mehr not­wen­dig, sie außer­halb sei­ner zu suchen. (Ebd. S. 66.)

Aus: Heinz-Ulrich Nen­nen: Empa­thie. (Kapi­tel: Blick und Gegenblick)