Die Masken der Götter

Lawrence Alma--Tadema: Sappho and Alcaeus. - Quelle: Public domain via Wikimedia.
Law­rence Alma–Tadema: Sap­pho and Alcae­us. – Quel­le: Public domain via Wikimedia.

Göt­ter als Repräsentanten

Es scheint, als hät­ten sich in der Ent­wick­lungs­ge­schich­te von Theo­ge­ne­se und Psy­cho­ge­ne­se zunächst alle erdenk­li­chen Natur­gei­ster zusam­men­tun müs­sen, um Göt­ter ent­ste­hen zu lassen. 

Jeder Gott reprä­sen­tiert vie­le Zustän­dig­kei­ten, die allein anhand der Bei­na­men man­cher Göt­ter eine erstaun­li­che Ämter­häu­fung erah­nen lassen. 

Die Göt­ter, wie wir sie aus der Mytho­lo­gie ken­nen, sind kom­ple­xe Per­sön­lich­kei­ten mit einer Viel­falt an Iden­ti­tä­ten, in einem Zusam­men­spiel unter­schied­lich­ster Ide­al­vor­stel­lun­gen ver­schie­den­ster Her­kunft. Sie reprä­sen­tie­ren eben, wor­an vie­len Men­schen immer wie­der sehr gele­gen war.

Göt­ter ver­kör­pern mit ihrem Cha­rak­ter, wofür sie alle­go­risch ein­ste­hen. Nicht nur die Mythen, auch ihre Figu­ren gehen schließ­lich mit der Zeit. Ihre Deu­tung ist stets abhän­gig vom Zeit­geist, und doch ist da immer etwas, das die Zeit über­dau­ert. So läßt sich das Göt­ter­paar Zeus und Hera als Alle­go­rie auf das Selek­ti­ons­prin­zip einer jeden Markt­ge­sell­schaft deu­ten. — Wäh­rend Zeus immer nur ›zeugt‹ und ein Unter­neh­men nach dem ande­ren ›grün­det‹, trach­tet die Gat­tin und Schwe­ster Hera allen hoff­nungs­vol­len Errun­gen­schaf­ten stets nach dem Leben. 

Der­weil wür­de Her­mes zwei­fels­oh­ne heu­te das Inter­net ver­kör­pern, wäh­rend der grie­chi­sche Ares und sein römi­scher Kol­le­ge Mars den Krieg ein­mal von innen als trau­ma­ti­sie­ren­des Kno­chen­bre­chen, dann aber auch von außen als zyni­sches Geschäft zur Dar­stel­lung brin­gen. Und unlängst ist Roman Polań­ski mit mar­kan­ten Brü­chen im Spielfilm–Bühnenstück und Erotik–Drama Venus im Pelz, im ful­mi­nan­ten Wech­sel­spiel eines Macht­kamp­fes um Lie­be und Unter­wer­fung, die Epi­pha­nie einer Göt­tin gelun­gen. — Es sind näm­lich eini­ge Selt­sam­kei­ten, also ›Wun­der‹ zu ver­zeich­nen, die sich alle­samt ›erklä­ren‹ las­sen, wenn ange­nom­men wird, man habe es bei der Figur der Van­da tat­säch­lich mit einer Erschei­nung der Venus zu tun.

Göt­ter las­sen sich auch als System–Charaktere betrach­ten. Sie sind, wie sie sind und sie tun, was sie nun ein­mal tun müs­sen, ändern läßt sich da nichts. — Wenn wir also mit ihnen hadern, daß sie sind, wie sie sind, dann hadern wir eigent­lich mit uns, denn wir haben die Insti­tu­tio­nen so und nicht anders erschaf­fen. Auch sind wir nicht Geschöp­fe der Göt­ter, son­dern die Göt­ter sind Geschöp­fe von uns. 

Es wäre daher tun­lichst anzu­ra­ten, den Göt­tern ande­re, huma­ne­re, lie­bens­wür­di­ge­re Cha­rak­te­re zuzu­ge­ste­hen. Dann ver­lie­ren auf lan­ge Sicht viel­leicht auch man­che unse­rer Insti­tu­tio­nen ihren inhu­ma­nen Cha­rak­ter. Die olym­pi­schen Göt­ter set­zen sich aus vie­len vor­ma­li­gen Lokal­gott­hei­ten zusam­men, daher haben sie alle erdenk­li­chen Kom­pe­ten­zen, was aller­dings auch zu Über­schnei­dun­gen in der Zustän­dig­keit führt. Es kommt daher immer wie­der unter ihnen zu Kompetenz–Streitigkeiten, die sich aber einer wie Odys­seus sehr gut zunut­ze zu machen versteht.

Das ist das Neue am Neu­en Men­schen, den Göt­tern gegen­über­zu­tre­ten, wie zuvor bereits den Tie­ren in der Natur, als Trick­ster. Sisy­phos, der mit List und Tücke den tum­ben Tod über­li­stet und womög­lich noch in der ihm auf­er­leg­ten Stra­fe heim­lich Erfül­lung fin­det, wird nicht von unge­fähr mit­un­ter auch als Vater des Odys­seus gesehen. 

Mit der Figur des Trick­sters wird die Ambi­va­lenz gewahrt, denn der Schelm ist bei­des, das, was er vor­gibt zu sein und das, was er auch immer noch ist. Zumeist ist er schwach wie der Fuchs im Mär­chen, der sich not­ge­drun­gen immer wie­der eine List ein­fal­len läßt. — Ob in der Natur, Gei­stern und Tie­ren gegen­über oder aber in der Kul­tur gegen­über Göt­tern und Insti­tu­tio­nen, immer­zu kommt es auf Mime­sis an.

Wer Tie­re über­li­sten, Gei­ster rufen und dienst­bar machen will, muß gut beob­ach­ten, um sich ihnen in ange­mes­se­ner Gestalt nähern zu kön­nen. Wer mit Göt­tern zu Gericht geht, wird sich eini­ges ein­fal­len las­sen müs­sen, die eige­nen Schwä­chen in Stär­ken zu ver­wan­deln. — Göt­ter ent­la­sten, gera­de weil sie so über­mensch­lich ide­al sind. Daher ver­fü­gen sie über das, was dem Bösen nur hin­zu­ge­ge­ben wer­den müß­te, so daß es aus dem Man­gel­zu­stand herauskommt. 

Dann könn­te es end­lich zu dem wer­den, was es zu sein ver­hin­dert ist, durch Man­gel an Sein und Bewußt­sein. Dann könn­te Eifer­sucht zur Lie­be, Neid zur Aner­ken­nung, Sucht zur Erfül­lung und Ver­zweif­lung zur Zuver­sicht wer­den. Vor allem könn­ten dann auch die men­schen­ge­mach­ten Rache­göt­ter sich end­lich ver­wan­deln und den glück­li­chen Göt­tern des Epi­kur himm­li­sche Gesell­schaft lei­sten. — Erstaun­li­che gedank­li­che Figu­ren erge­ben sich und neue Mög­lich­kei­ten, Psy­cho­lo­gie zu betrei­ben, wenn wir Göt­ter zwar als Pro­jek­tio­nen betrach­ten, als sol­che aber ernst nehmen.

In Mythen und Mär­chen ist es immer wie­der der Trick­ster, dem das Unmög­li­che gelingt. Her­mes ist einer von ihnen, eben­so wie Pro­me­theus, der sei­ne Schütz­lin­ge erst auf die Idee mit dem Opfer­be­trug bringt. — Men­schen sind Trick­ster, sie wol­len sehen ohne gese­hen zu wer­den. Sie machen im Ver­bor­ge­nen ihre Beob­ach­tun­gen und rät­seln dann über das, was sie gese­hen haben. Sobald die Spra­che zur Ver­fü­gung steht, wird dar­über gere­det. Einst­wei­len ist es auch mög­lich, zu gesti­ku­lie­ren, zu spie­len und zu demon­strie­ren, was gese­hen wur­de und was es womög­lich bedeu­ten könnte. 

All­mäh­lich wer­den Ritua­le dar­aus, Tän­ze, Unter­wei­sun­gen und Ein­wei­sun­gen, um sich ver­traut zu machen mit dem, wor­auf es ankommt, wenn die Gestalt gewech­selt wird, wenn ein ande­rer Geist auf­kom­men soll, etwa der Geist des Büf­fels oder auch der des Mam­mut. — Men­schen wech­seln ihre Gestalt. Mas­ken sind dabei weit mehr als Ver­klei­dung und bei­lei­be kein Spiel. Ent­schei­dend ist Mime­sis, wenn es gilt, sich in ande­re Wesen hin­ein­zu­ver­set­zen, sich anzu­ver­wan­deln, um den frem­den Geist zu verstehen.

Der Trick­ster ist in der Lage, ein ande­rer zu wer­den, kaum anders als ein Tore­ro beim Trai­ning, wenn eine Schub­kar­re mit Hör­nern den leib­haf­ti­gen Kampf­stier ersetzt. Seit eh und je sind scha­ma­ni­sti­sche Ritua­le, Tän­ze und Zere­mo­nien dar­auf aus, sich von der eige­nen Natur abzu­set­zen und frem­de Gestalt anzu­neh­men, um sich über die Gren­zen der eige­nen Welt zu erheben. 

Die Tier­mas­ken der Scha­ma­nen sind dazu ange­tan, den Geist, auf den es jeweils ankommt, ange­mes­sen in Sze­ne zu set­zen, um ihn erle­ben, ver­ste­hen und viel­leicht auch beschwö­ren zu kön­nen. Alles, was vor­mals noch von Gei­stern ›drau­ßen‹ reprä­sen­tiert wur­de, wird im Zuge der Psy­cho­ge­ne­se inter­na­li­siert. Was zuvor noch im Äuße­ren leib­haf­tig erfahr­bar schien, ver­stummt dort, nur um sich ›innen‹ wie­der ver­neh­men zu las­sen. — Nichts geht ver­lo­ren, alle Instan­zen, Kräf­te und Moti­ve tre­ten spä­ter im Inne­ren der Gesell­schaft und schluß­end­lich auch in der Psy­che eines jeden Ein­zel­nen wie­der auf. Und es wer­den immer mehr Stim­men, weil die Welt selbst immer viel­fäl­ti­ger wird.

Seit Anbe­ginn der Zivi­li­sa­ti­on wur­den umlie­gen­de Häupt­lings­tü­mer syste­ma­tisch annek­tiert und mit ihnen auch die ein­schlä­gi­gen Kul­te. Die ehe­ma­li­gen Clan­g­ei­ster wer­den dabei fusio­niert und gewin­nen immer mehr an Gestalt. All­mäh­lich ent­wickeln sie mensch­li­che Glied­ma­ßen und tra­gen vor­erst noch Tier­köp­fe, die sich jedoch immer wei­ter redu­zie­ren, zunächst zur Per­so­na, dann zur Mas­ke. Wenn sie ihre Mas­ken lüf­ten, so kommt dar­un­ter ein mensch­li­ches Gesicht zum Vor­schein. — Grie­chi­sche Göt­ter öff­nen schließ­lich das ›Visier‹. Wenn sie ihre Mas­ken auf die Stirn hoch­schie­ben, wir­ken sie wie Schau­spie­ler in der Umbau­pau­se. Sie sind ganz offen­bar längst zu Inter­pre­ten und Dar­stel­lern ihrer selbst geworden.

Es ist auf­fäl­lig, wie kon­se­quent in der grie­chi­schen Anti­ke die Mas­ken der Göt­ter gelüf­tet und auf die Stirn hoch­ge­scho­ben wer­den. Die Annah­me der Eben­bild­lich­keit ist inso­fern nicht von der Hand zu wei­sen: Nur sind nicht wir es, die gött­li­che Züge tra­gen, viel­mehr sind Göt­ter mensch­li­che Eben­bil­der. — Aller­dings sind Göt­ter kei­ne Men­schen, sie sind idea­le, glück­li­che und voll­kom­me­ne Wesen. Und als Schöp­fer aller die­ser Pro­jek­tio­nen soll­ten wir uns selbst in jedem Ein­zel­nen von ihnen wiedererkennen …

Die Göt­ter sind tot und leben doch in unse­ren Innen­wel­ten, in den Dia­lo­gen und Dis­kur­sen immer wei­ter. Wir täten gut dar­an, ihnen in ihrer ver­wir­ren­den Viel­falt unse­re Refe­renz zu erwei­sen, denn das ist der Sinn von Ver­nunft. In ihrem Namen soll­te, was auch immer sie in ihrer Viel­falt ver­kör­pern, als Ide­al gese­hen und ange­mes­sen gewür­digt wer­den. Ihr Pan­the­on ist der Geist der Dis­kur­se, ihre Viel­heit ist die Viel­falt der Vernunft.