Die Heldenreise

Geschichte aller Geschichten

Alle ein­schlä­gi­gen Mythen fol­gen oft dem Muster der Hel­den­rei­se: Ein Held oder auch eine Hel­din, die anfangs rein gar nichts ahnen, wer­den bald schon auf­bre­chen, um end­lich zu sich zu kom­men und ›ganz‹ zu wer­den. – Aber bis dahin ist es noch ein wei­ter Weg.

Die Hel­den­rei­se ist das Nar­ra­tiv aller Nar­ra­ti­ve, ›die‹ Geschich­te aller Geschich­ten. Anfangs drängt sich eine bedroh­li­che Ange­le­gen­heit immer mehr in den Vor­der­grund. — So wie bis­her kann es ein­fach nicht mehr weitergehen.

Eine schon lang anste­hen­de Aus­ein­an­der­set­zung muß end­lich aus­ge­tra­gen wer­den, um mit sich und der Welt wie­der ins Rei­ne zu kom­men. – Erst kommt es zur Kri­se und dann zum Auf­bruch auf eine Rei­se, die zu den Quel­len des Übels füh­ren soll.

Gust­ave Moreau: Her­ku­les und die Ler­näi­sche Hydra (1876).

Nach alle­dem läßt sich auch der feh­len­de Teil der eige­nen Per­sön­lich­keit ent­wickeln und inte­grie­ren, um neben dem Ani­mus die nicht min­der wesent­li­che Ani­ma zu ›befrei­en‹.

Es geht schluß­end­lich um die Schat­ten in unse­rer Psy­che. Das ist dann auch die Erklä­rung, war­um die­se Erzähl­wei­se so über­aus popu­lär ist. Der­ar­ti­ge Geschich­ten fas­zi­nie­ren, weil sie immer auch etwas mit uns zu tun haben…

Einer 2019 im Lite­ra­tur­haus Karls­ru­he ver­an­stal­te­ten Rei­he Phi­lo­so­phi­scher Salons zum The­ma Hel­den­rei­se, ver­dan­ke ich wert­vol­le Ein­sich­ten. Eine Ver­an­stal­tung mit dem Schrift­stel­ler, Film­wis­sen­schaft­ler und Dreh­buch­au­tor Joa­chim Ham­mann, dem Autor einer bemer­kens­wer­ten Stu­die über ›Die Hel­den­rei­se‹, gab tie­fe Ein­blicke in die Abgrün­de der Nar­ra­ti­ve schick­sal­haf­ter Geschlech­ter­rol­len. (Joa­chim Ham­mann: Die Hel­den­rei­se im Film. Dreh­bü­cher, aus denen die Fil­me gemacht wer­den, die wirk­lich berüh­ren; Frank­furt am Main 2007.)

Die Kli­schees ver­mit­teln einen männ­li­chen Hel­den, der auf­bricht in der Absicht, eine ›gefan­ge­ne‹ Prin­zes­sin zu befrei­en. Dage­gen ist es eine inter­es­san­te Spe­ku­la­ti­on, ein­mal bewußt zwi­schen Hel­den und Hel­din­nen zu unterscheiden.

Die Ant­wort von Joa­chim Ham­mann war eben­so frap­pie­rend wie erhel­lend: Bei Män­nern gin­ge es dar­um, sich in der Welt zu bewei­sen, also erst die eige­ne Posi­ti­on zu fin­den. — Bei Frau­en hin­ge­gen gin­ge es zumeist dar­um, daß sie ›gebun­den‹ sei­en und sich aus die­ser fata­len Bin­dung erst befrei­en müßten.

Tat­säch­lich wird männ­li­chen Hel­den häu­fig ein ihnen eigent­lich zuste­hen­des Pri­vi­leg ver­wehrt. Zumeist hat sich ein Anver­wand­ter etwa des Throns zu Unrecht bemäch­tigt. Legi­ti­me Ansprü­che wer­den ver­wei­gert, statt­des­sen sol­len die Abge­wie­se­nen haar­sträu­ben­de Mut­pro­ben absol­vie­ren. Das geschieht in der Erwar­tung, daß sie nicht wie­der zurück­kom­men, son­dern den Tod finden.

Bei Hel­din­nen ver­hält es sich anders: Sie haben den sozia­len Schutz­raum ver­lo­ren. Häu­fig ist die Mut­ter gestor­ben und nun herrscht ein ande­res Regi­ment. — Die ange­hen­de Hel­din ist in eine pre­kä­re Lage ohne Aus­weg gera­ten. Das ist bei Aschen­put­tel der Fall: Die Mut­ter ist gestor­ben, der Vater hat eine ande­re Frau mit eige­nen Töchtern. 

Aber auf dem Grab der Mut­ter steht ein Strauch mit Zaubernüssen…

Die erstaunliche Rettung der Romantik

Es ist nun inter­es­sant, dar­über zu spe­ku­lie­ren, ob sich nicht in jeder Hel­den­rei­se stets zwei Hel­den auf den Weg bege­ben. — Ein männ­li­cher Held und eine weib­li­che Hel­din zugleich, die zwar getrenn­ter Wege gehen, aber im ent­schei­den­den Moment gemein­sam auftreten.

Hin­ter jeder muster­gül­ti­gen Hel­den­rei­se steht das dra­ma­ti­sche Gesche­hen einer Initia­ti­on: Der Kna­be oder auch das Mäd­chen wird sich selbst über­win­den und ›ster­ben‹ müs­sen. — Nach Bewäl­ti­gung ihrer schick­sal­haf­ten Lebens­kri­se wer­den die Prot­ago­ni­sten in neu­er Gestalt ›wie­der­ge­bo­ren‹, nicht ›nur‹ als Mann oder Frau, son­dern als ›gan­zer‹, viel­leicht auch als ›neu­er‹ Mensch.

Die typi­schen Kan­di­da­ten die­ser Plots sind anfangs nicht im gering­sten moti­viert, sich irgend­wie her­vor­zu­he­ben. Eher not­ge­drun­gen machen sie sich schließ­lich doch auf den Weg, zunächst zu ihrem Men­tor und dann ins Aben­teu­er. Es gilt, sich zu ent­fal­ten, denn da stecken eini­ge bis­lang unbe­kann­te, noch schlum­mern­de Fähig­kei­ten in ihnen.

Der eigent­li­che ›Sinn‹ und das Ziel jeder Hel­den­rei­se liegt dar­in, fast schick­sal­haf­te Hemm­nis­se durch Ent­wick­lung zu über­win­den. — Das ist nur mög­lich durch Kon­fron­ta­ti­on mit einem tief sit­zen­den, viel­leicht noch gar nicht bewußt gewor­de­nem trau­ma­ti­schen Ereig­nis. Das alles wird ver­deckt von einem Schat­ten, der das alles ver­deckt; auch die ver­bor­ge­nen Kräf­te, die wäh­rend der Hel­den­rei­se all­mäh­lich ent­wickelt werden. 

Längst gehen bereits merk­wür­di­ge Zei­chen der kom­men­den Zeit vor­aus. Aber sie wer­den nicht wahr­ge­nom­men. Man ist durch tag­täg­li­che Ver­drän­gungs­ar­beit auf der Hut vor wei­te­ren Bela­stun­gen und will auf gar kei­nen Fall dar­an erin­nert zu wer­den, daß etwas im Argen liegt. — Aber die­ser Bann wird jetzt gelöst, denn der Held oder die Hel­din wer­den sich dem Problem nun­mehr bewußt aus­set­zen. Man wird das Unge­heu­er auf­su­chen, um per­sön­lich mit ihm zu sprechen.

Tho­mas Coo­per Gotch: Unschuld (1904).

Bis es jedoch zu die­ser alles ent­schei­den­den Begeg­nung kommt, sind lan­ge Wege zu gehen, tie­fe Äng­ste zu über­win­den und neue Fähig­kei­ten zu erwer­ben, was erst all­mäh­lich zur Los­lö­sung vom Alt­her­ge­brach­ten füh­ren wird.

Auf dem Weg zur Selbst­be­geg­nung in den Schat­ten­wel­ten der unbe­wuß­ten Erfah­run­gen, wer­den die zuvor trau­ma­ti­sie­ren­den und daher unter­drück­ten Erfah­run­gen all­mäh­lich offen­bar. Es sind immer auch Bewäh­rungs­pro­ben, an denen nicht weni­ge schei­tern. Aber mit dem auf­kom­men­den hel­den­haf­ten Mut und zusätz­lich erwor­be­nen Kom­pe­ten­zen ent­ste­hen neue, unge­ahn­te Poten­tia­le. — Mit zuneh­men­der Selbst­er­fah­rung und durch Bewäl­ti­gung man­cher Kri­sen, kommt immer mehr Selbst­ver­trau­en auf. 

Der Weg führt nicht nur an Gren­zen, son­dern weit dar­über hin­aus: Ent­schei­dend ist ech­te Ver­zweif­lung und wah­re Lie­be, erst das moti­viert die Bereit­schaft zur ulti­ma­ti­ven Selbst­auf­ga­be. — Im oft dra­ma­tisch insze­nier­ten Show­down kommt es sogar zur unver­hoff­ten Erret­tung längst ver­lo­ren geglaub­ter Idea­le: Die wie­der­hol­te Selbst­über­win­dung aus Grün­den der Lie­be, ist bei alle­dem das heim­li­che Motiv aller Motive.

Sogar die eigent­lich längst dekon­stru­ier­ten Idea­le roman­ti­scher Lie­be fei­ern dann fröh­li­che Urständ. Tat­säch­lich wird Hel­den eben­so wie Hel­din­nen abver­langt, in der Wahl zwi­schen Lie­be und Risi­ko die Lie­be zu wäh­len, was eigent­lich Selbst­auf­ga­be, also die Bereit­schaft zur Selbst­auf­op­fe­rung bedeutet.

Erst die­se Arran­ge­ments gehen bis zum Äußer­sten. Erst die­se füh­ren zum Mei­stern der gewal­tig­sten Wag­nis­se, bis hin zu ›Tod‹ und ›Wie­der­ge­burt‹. — Tat­säch­lich schrecken die Hel­den und Hel­din­nen die­ser Mei­ster­er­zäh­lun­gen auch vor ulti­ma­ti­ver Selbst­über­win­dung nicht mehr zurück. Sie gehen wirk­lich bis ans Äußer­ste und dar­über hin­aus. Genau das ent­spricht der roman­ti­schen Uto­pie und erret­tet schluß­end­lich ihre Idea­le doch.

Wo Roma­ne, Erzäh­lun­gen, Bücher, Fil­me oder Theo­rien vie­le Leser und Zuschau­er fes­seln, tief berüh­ren und ihnen viel­leicht sogar aus der See­le spre­chen, dort steht die Nar­ra­ti­ve der Hel­den­rei­se stets im Hintergrund. 

In den Mythen geht es immer wie­der um Ori­en­tie­rungs­wis­sen, also wer­den uni­ver­sel­le Erfah­rungs­mu­ster neu in Sze­ne gesetzt. Das hat der US–Amerikanische Kul­tur­anthro­po­lo­ge Joseph Camp­bell in Ver­gleichs­stu­di­en über die­se Mei­ster­er­zäh­lun­gen aus der gan­zen Welt zei­gen können. 

In sei­nen Stu­di­en ließ sich Camp­bell von der Tie­fen­psy­cho­lo­gie von Carl Gustav Jung lei­ten, durch fern­öst­li­che Schrif­ten, die der Indo­lo­ge Hein­rich Zim­mer über­setzt und kom­men­tiert hat, durch die Expe­ri­men­tal­phi­lo­so­phie von Fried­rich Nietz­sche und durch das Kon­zept von Wil­le und Ver­zweif­lung bei Arthur Scho­pen­hau­er.

Sei­ne Meta­theo­rie der Mythen hat­te Joseph Camp­bell in den 50er Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts bereits publik gemacht, fand zunächst aber kaum Anklang. — Erst nach einer Rei­he von Fern­seh­in­ter­views auf der Sky­wal­ker Ranch von Geor­ge Lucas, dem Dreh­buch­au­tor, Pro­du­zen­ten und Regis­seur von Star Wars, wur­den die­ses Theo­rie­kon­zept auch einem brei­ten Publi­kum bekannt.

Inzwi­schen waren längst Film­schaf­fen­de auf die­ses Meta­kon­zept auf­merk­sam gewor­den. All­mäh­lich wur­den ent­spre­chen­de Dreh­bü­cher zum Erfolgs­re­zept. — Seit­her las­sen sich Autoren, Dreh­buch­schrei­ber, Fil­me­ma­cher, aber auch Psy­cho­the­ra­peu­ten von der hin­ter­grün­di­gen Dra­ma­tur­gie einer Hel­den­rei­se an den ein­zel­nen, muster­gül­ti­gen Weg­sta­tio­nen inspirieren.

Das Theo­rie­kon­zept der Hel­den­rei­se ist ein Genie­streich, weil wir damit in die Lage ver­setzt wer­den, uns selbst beim Zuhö­ren, Mit­er­le­ben und Nach­emp­fin­den über die Schul­tern zu schau­en: Was macht einen ›guten‹ Plot aus? Wor­um geht es wirk­lich in einer aktu­el­len Kri­se? Bei wel­cher der 64 Weg­sta­tio­nen befin­det sich die betrof­fe­ne Per­son gerade?

Wenn wir uns nun in einer sol­chen Erzäh­lung spie­geln, wenn Leser und Zuschau­er sich iden­ti­fi­zie­ren kön­nen, weil sie sich selbst wie­der­erken­nen, dann ste­hen uns nicht mehr nur die Nar­ra­ti­ve selbst zur Ver­fü­gung, son­dern gleich die gan­ze Dra­ma­tur­gie aller die­ser Geschichten.

Nicht von unge­fähr sehen wir anfangs allen­falls durch­schnitt­li­che Men­schen in einer unspek­ta­ku­lä­ren All­tags­welt, die viel­leicht schon erste Ris­se bekommt. Aber die­se Noch–Nicht–Helden den­ken noch nicht im Traum dar­an, bald schon auf eine aben­teu­er­li­che Rei­se zu gehen…

Alle Mythen und Mär­chen fol­gen in immer neu­en Vari­an­ten die­ser muster­gül­ti­gen Dra­ma­tur­gie: Das Gilgamesch–Epos, die Odys­see von Homer oder Amor und Psy­che von Apu­lei­us, Wil­helm Mei­ster von Goe­the eben­so wie die Phä­no­me­no­lo­gie des Gei­stes von Hegel, alle die­se Wer­ke ent­spre­chen dem Metaplot einer Hel­den­rei­se. — Der­weil ist Kaf­kas Pro­zeß ein war­nen­des Bei­spiel, was pas­siert, wenn sich der ver­meint­li­che Held nicht auf den Weg macht, son­dern nur war­tet, bis es zu spät ist: Das Leben wird dann in erschrecken­der Selbst­ver­fan­gen­heit ein­fach nur ver­wirkt.