Instanzen der Psyche

Warum belügen und betrügen wir uns selbst?

Wenn man vor­zei­ten ein Semi­nar unter dem Rubrum “Iden­ti­tät” anbot, platz­ten die Räu­me aus allen Näh­ten. Mit dem “Selbst” ver­hält es sich ähn­lich, aber das “Selbst­be­wußt­sein” ist aus­ge­spro­chen beliebt bei denen, die auf Kar­rie­re aus sind. – Die Nähe zur Ver­stel­lung ist fatal, vor allem dann, wenn Ver­stel­lung als sol­che zum Erfolgs­prin­zip erklärt wird. Dabei wird ein­fach unter­stellt, daß man nur durch schlech­tes Thea­ter “auf­stei­gen” könne.

Das heu­ti­ge The­ma im Semi­nar über “Die Schön­heit der See­le” soll den Blick hin­ter die Kulis­sen die­ser Schwin­de­lei­en öff­nen. – Wir machen nicht nur ande­ren, son­dern vor allem auch uns selbst alles erdenk­li­che vor. Dabei stellt sich die Fra­ge, wie das eigent­lich funk­tio­niert, also: War­um belü­gen, hin­ter­ge­hen, stra­fen und zer­stö­ren Men­schen sich selbst?

Aber dazu müs­sen wir erst ein­mal ins Ver­ste­hen hin­ein­kom­men. Denn eigent­lich müß­ten da doch inne­re Instan­zen sein, die mehr ober min­der unbe­stech­lich sind. Aller­dings soll­ten wir uns auf eini­ges gefaßt machen, denn alle die­se Kate­go­rien sind Kon­struk­te. – Es “gibt” Iden­ti­tät, Selbst, Ich, Unter­be­wußt­sein, Geist und Selbst­be­wußt­sein nicht wirk­lich, eben­so wenig wie es gelin­gen kann, die See­le als sol­che “ding­fest” zu machen.

Daher ist es hilf­reich, mit einem Kon­strukt zu begin­nen, das nicht zu hoch aber auch nicht zu tief liegt in die­sem kom­pli­zier­ten Gefü­ge von Beob­ach­tungs­be­ob­ach­tun­gen, die hin­ter allen unse­ren Selbst­wahr­neh­mun­gen ste­hen. – Wer sich bei­spiels­wei­se in Fra­gen der Erin­ne­rung zu sicher ist, daß es wirk­lich so war, was, wor­an und wie wir erin­nern, hat schon ein ganz hohes Poten­ti­al, sich selbst zu betrü­gen, ohne es auch nur zu bemerken.

Wenn wir uns an etwas erin­nern wol­len, dann wird nicht wirk­lich rekon­stru­iert, was gewe­sen ist. Tat­säch­lich wird nur die letz­te Erin­ne­rung in Erin­ne­rung geru­fen. Wir grei­fen ledig­lich die­sel­ben Wor­te, Gedan­ken, Gefüh­le, Per­spek­ti­ven und Urtei­le wie­der auf, die wir beim letz­ten Mal schon ein­ge­setzt haben, als wir uns an die­se bestimm­te Bege­ben­heit erinnerten.

Das ist eigent­lich so etwas wie Geschichts­klit­te­rung. Es ist nicht wirk­lich objek­tiv, viel­mehr höchst sub­jek­tiv, was kein Skan­dal wäre, wenn wir es denn tat­säch­lich auch von uns wüß­ten, daß wir uns nicht wirk­lich erin­nern, son­dern Erin­ne­rung nur zelebrieren.

Um das alles näher zu ver­ste­hen, soll­te man auf das Selbst­be­wußt­sein ein beson­de­res Augen­merk legen. Immer­hin han­delt es sich um ein Bewußt­sein aller erdenk­li­cher Bewußt­seins­zu­stän­de. – Die­se Instanz weiß sehr viel von uns und über unse­re Fähig­kei­ten, aber auch über unse­re Gren­zen in der Viel­falt unse­rer inne­ren Wider­sprü­che. Die Nähe zwi­schen Selbst­be­wußt­sein und Gewis­sen ist daher höchst bemer­kens­wert und eigent­lich sogar ein Gewinn in der Selbst­er­fah­rung für alle die, die es wirk­lich wis­sen wollen.

Fran­çois Chiff­lart: 
Das Gewis­sen, 1877.

Wann immer wir uns in eine bestimm­te Rol­le bege­ben, geschieht der Zugriff dar­auf über unser Selbst­be­wußt­sein, das über unse­re Poten­tia­le an Per­spek­ti­ven und Rol­len ver­fügt. – Der­weil ist das Gewis­sen idea­ler­wei­se so etwas wie ein per­ma­nen­ter Zeu­ge die­ser Selbst­be­ob­ach­tung, und das aus einer mög­lichst unvor­ein­ge­nom­me­nen, unpar­tei­li­chen Perspektive.

Wir kön­nen uns in jedem belie­bi­gen Augen­blick auf eine bestimm­te Wei­se geben, aber auch anders. Die Fra­ge wäre also, war­um wir uns so geben, wie wir uns geben. – Auf die­se Wei­se erhal­ten wir Zugang zur Rol­len­be­set­zung in unse­ren Inszenierungen.

Eigent­lich geht es in unse­re Psy­che zu wie in einem Thea­ter, wo es Stücke, Rol­len, Beset­zun­gen, eine Inten­danz, Regis­seu­re, Dra­ma­tur­gen, das Publi­kum und auch Kri­ti­ker gibt. – Inter­es­sant ist nun, daß wir das alles zugleich sind, weil wir in dem Thea­ter, das wir sind, alle die­se unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven selbst einnehmen.

Also spie­len wir nicht nur Thea­ter, wir sind eines, nicht nur für ande­re, son­dern vor allem auch für uns selbst. – In der Wahr­neh­mung die­ser unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven liegt also unse­re Indi­vi­dua­li­tät, unser Selbst­sein und aus die­ser Selbst­er­fah­rung kann dann auch so etwas wie Selbst­be­wußt­sein ent­ste­hen, wenn, solan­ge und weil das Gewis­sen ein­ver­stan­den ist.

Hin­zu kom­men dann auch noch Ansprü­che, wie etwa der nach Authen­ti­zi­tät oder auch Empa­thie, was nichts ande­res bedeu­tet als Ehr­lich­keit, Ein­füh­lungs­ver­mö­gen nicht nur ande­ren, son­dern auch sich selbst gegen­über. – Vor die­sem Hin­ter­grund stellt sich dann die Fra­ge, wie Selbst­be­trug eigent­lich über­zeu­gend funk­tio­nie­ren kann, wenn wir doch selbst stets unser eige­ner Zeu­ge sind.

Aber es gibt kei­ne “objek­ti­ve Wahr­heit”. Wir kön­nen vie­les mes­sen oder auch nach­wei­sen, aber die Bedeu­tung und die Bewer­tung des Gemes­se­nen steht auf einem ande­ren Blatt. Es sind in der Regel daher auch nur Kon­ven­tio­nen, die sich von Zeit zu Zeit ver­än­dern kön­nen, auf die alle erdenk­li­chen Ein­schät­zun­gen, Beur­tei­lun­gen und Bewer­tun­gen zurück­ge­führt wer­den kön­nen. Ent­schei­dend bei alle­dem ist der Wunsch nach einer Aner­ken­nung, die uns selbst von Bedeu­tung ist.

Daher kommt es oft zu gro­ßen Kon­flik­ten zwi­schen den ein­zel­nen Per­spek­ti­ven. Dann muß zwi­schen den kon­f­li­gie­ren­den Inter­es­sen ver­mit­teln wer­den. Das kön­nen wir auch als Anzei­chen von Frei­heit und Auto­no­mie deu­ten, daß es mög­lich ist, der einen Instanz den Vor­zug zu geben und die ande­re Per­spek­ti­ve zu marginalisieren.

Das ist dann auch ein Zei­chen unse­rer Indi­vi­dua­li­tät, was durch­aus hei­kel wer­den kann, weil vie­les oft ein­fach nur vom Tisch gewischt wird, was viel­leicht aus ande­ren, sehr guten Grün­den wich­tig gewe­sen wäre.

Es ist eigent­lich inter­es­sant, ande­re, aber auch sich selbst, in Hin­sicht auf die­se Meta­per­spek­ti­vi­tät zu beur­tei­len. Was wird für wich­tig erach­tet, was wird eher in den Hin­ter­grund gedrängt und in wel­chen Fäl­len setzt eine Selbst­ge­rech­tig­keit ein, die viel­leicht ein wenig zu weit geht, näm­lich bis hin zum Selbst­be­trug. – Wenn es gilt, sich erklä­ren zu wol­len, war­um Men­schen sich selbst belü­gen und betrü­gen, war­um sie sich selbst ver­let­zen oder auch zer­stö­ren, dann liegt es am Stel­len­wert, der den ein­zel­nen Per­spek­ti­ven ein­ge­räumt wird.

Dabei ist es nun inter­es­sant, die Haupt­the­se die­ses Semi­nars gel­tend zu machen. Die so über­aus oft als Opfer von Umstän­den bemit­lei­de­te Psy­che ist offen­bar sehr häu­fig selbst nicht ganz so unschul­dig, wie ange­nom­men wird. Die Psy­che ist viel mehr ver­wickelt, als daß sich noch ihre Opfer­rol­len hoch­hal­ten lie­ße. – Das Kon­zept der Psy­che hat immer mehr welt­li­che Aspek­te in sich auf­ge­nom­men, die eher abträg­lich sind, und hier­in dürf­te auch die Ursa­che lie­gen, war­um man­che dazu nei­gen, sich selbst zu betrügen.

In sol­chen Meta­kon­flik­ten läßt sich Gestal­tungs­frei­heit gewin­nen, wenn wir die ver­schie­de­nen Instan­zen gegen­ein­an­der aus­spie­len. Mehr noch, wenn wir es gut ein­rich­ten, dann könn­ten wir es fer­tig­brin­gen, daß wir gera­de durch die Dis­kur­se aller die­ser so unter­schied­li­chen Instan­zen unter­ein­an­der sehr gut bera­ten und gera­de­zu umfas­send werden.

Wäh­rend es bei­spiels­wei­se die Psy­che eher auf welt­li­ches, mög­lichst gegen­wär­ti­ges Glück abge­se­hen hat, ver­tritt die See­le dage­gen eher über­zeit­li­che Wer­te. – Wenn wir vom Modell einer See­len­wan­de­rung aus­ge­hen, dann sind gera­de die­se Rück­sicht­nah­men von ent­schei­den­der Bedeu­tung in der Ent­wick­lung einer eige­nen Per­sön­lich­keit, die mehr ist als eine Fas­sa­de rei­ner Äußerlichkeiten.

Anstel­le von Ethik und Moral haben Wer­bung und Unter­hal­tungs­in­du­strie inzwi­schen die Ori­en­tie­rungs­ori­en­tie­rung über­nom­men. – Es kommt fast nur noch auf den äuße­ren Schein an, auf Pro­duk­te, Kon­sum, Unter­hal­tung und Selbst­in­sze­nie­rung. Aber es sind zumeist nur Äußer­lich­kei­ten, die da insze­niert werden.

Dabei man­gelt es an Geist und Ver­nunft, es fehlt an tat­säch­li­chem Selbst­be­wußt­sein, weil das Gewis­sen nicht wirk­lich mit von der Par­tie ist. Vor allem fehlt es an dem, was Mensch­sein aus­macht, die Ent­fal­tung des­sen, was in uns steckt und was erst noch ent­wickelt wer­den müßte.